Eine atemberaubend schöne Höhle, ein kompetenter Führer und eine recht kleine Besuchergruppe – die Besichtigung
der Sehenswürdigkeit fing sehr vielversprechend an.
In einem Seitengang des Höhlensystems zündet der Führer eine hängende Öllampe an, um kurz darauf nach einer
knappen Vorwarnung das elektrische Licht auszuschalten. Gerade als sich die Augen der Besucher an die nun nur noch
sehr spärliche Beleuchtung gewöhnt haben, wird diese durch Pusten zum Erlöschen gebracht, um den Teilnehmern „zu
zeigen, wie es den Bergleuten damals erging“.
Flüsternd beginnen einige Teilnehmer, die Vorteile des elektrischen Lichtes zu diskutieren, aber ein kleines Mädchen,
schätzungsweise dritte oder vierte Klasse und das einzige Kind in dieser Runde, äußert klar und deutlich: „Das ist mir
jetzt zu dunkel!“, ohne dabei spürbare Angst zu zeigen.
Nach dem Einschalten der Höhlenbeleuchtung erzählt der Führer, dass er oft Schulklassen zu Besuch habe. Wenn er
dann das Licht ausschalte, „schreien die Jungen immer ganz ängstlich herum und die Mädchen bleiben gelassen“.
Freudig vertieft er dieses Klischee und sonnt sich in der Zustimmung der Verwandten des Mädchens und weiterer
vermutlich Töchter oder Enkelinnen habender Zuhörer.
Plötzlich fällt ihm auf, dass ich ihm eine Rückmeldung schuldig bleibe, und er spricht mich direkt an, ob ich seine
Meinung denn nicht teilen würde. Ich frage ihn unumwunden: „Schalten Sie, wenn Sie Schulklassen zu Besuch haben,
das Licht auch komplett aus und löschen dann die Öllampe?“ Er antwortet: „Ja, natürlich …“, und beginnt, seine
vorherige Abhandlung über das geschlechterspezifische Verhalten bei Dunkelheit zu wiederholen. Während ich
überlege, ob ich etwas dazu sage und wenn ja, was, unterbricht er sich selbst und möchte von mir wissen, ob ich denn
Bedenken wegen seines Vorgehens habe.
Ja, natürlich habe ich Bedenken! Ich frage nach, ob er das Licht auch ausschaltet, wenn in einer Schulklasse ein
autistisches Kind ist. Er stutzt kurz, dann antwortet er ohne eine Spur von Unsicherheit: „Das ist gar kein Problem, die
mögen alle die Dunkelheit. Ich habe schon viele solche Kinder hier gehabt. Die wollen alle unbedingt in die Höhle
gehen. Wenn sie dann doch ängstlich werden, dann nehme ich sie an die Hand und erzähle ihnen ein bisschen was.“
Autistische Kinder – sie mögen die Dunkelheit? Wenn sie Angst haben, lassen sie sich von einem wildfremden Mann an
die Hand nehmen und beruhigen sich dann?
Einen kurzen Moment lang durchzuckt mich ein heftiger Impuls, diesem Mann etwas über Autismus zu erzählen. Aber
dann siegt mein Urlaubswille. Eigentlich habe ich schon wieder zu viel gesagt. Ich verspüre keine Lust, hier und jetzt zu
offenbaren, dass ich einen autistischen Sohn habe. Einen Sohn, der als Kind wie viele andere autistische Kinder nicht in
eine Höhle zu bewegen war, den eine tiefsitzende Angst vor der Dunkelheit beherrschte, der sich von einem Fremden
nicht an die Hand nehmen ließ …
Am Ende der Führung verwickelt mich der Erklärende erneut in ein Gespräch und erläutert mir: „Ich habe mich vorhin
nicht ganz klar ausgedrückt. Wenn ich ein autistisches Kind in einer Schulklasse habe, dann frage ich vorher immer
ganz genau nach, ob es in Ordnung ist, dass ich das Licht komplett lösche. Bis jetzt war das immer in Ordnung.“
Das Bedürfnis des Führers, dieses Thema am Ausgang noch einmal mit mir zu besprechen, und die Korrektur seiner
Aussage zeigen, dass er wohl ahnte, dass ich meine erste Frage nicht zufällig gestellt hatte. Seine widersprüchlichen
Aussagen machen mir klar, dass er trotz seiner sicher wirkenden anfänglichen Aussage nicht viel über Autismus weiß.
Aber warum kann er dies nicht einfach zugeben? Ich verkneife mir die logische Frage, wie er denn in einer Schulklasse
einen autistischen Schüler erkennen will, wenn er von den begleitenden Personen keine derartige Information erhält.
An diesem Tag bestätigt sich wieder, dass das Wort „Autismus“ in den letzten zehn Jahren eine große Verbreitung fand,
aber dass die Vorstellung von dem, was es denn bedeutet, von „ein bisschen eigenartig“ über „skurril und schrullig“ bis
hin zu „nicht besonders schlimm“ reicht.
In einer mitteldeutschen Höhle
© Inez Maus 2014–2024