Diese Frage wird mir nach einer grundlegenden Einführung in die Thematik Autismus in einer
Diskussionsrunde gestellt, wobei die Teilnehmer keine oder nur wenige persönliche
Berührungspunkte mit Autismus haben, aber an dem Thema interessiert sind.
Die Antwort ist schnell gegeben: „Nein. Ich habe meine Kinder nicht konsequent erzogen.“ Die
Begründung der Antwort lässt sich jedoch nicht so schnell geben, dazu bedarf es einiger
Erklärungen.
Das Adjektiv konsequent leitet sich von dem lateinischen Wort consequens ab, welches
folgerichtig bedeutet. Im heutigen Sprachgebrauch wird konsequent allerdings seltener im Sinne
von sachlich oder logisch zwingend (also folgerichtig) gebraucht, sondern meist im Sinne von
unbeirrbar oder fest entschlossen.
In der Erziehung von Kindern wird Konsequenz üblicherweise dahingehend interpretiert, dass
aufgestellte Regeln durchgesetzt und Regelverstöße bestraft werden, wobei die Strafe einen
logischen Bezug zum Verstoß haben sollte. Erziehungsratgeber versprechen, dass ein frühzeitiges
Aufstellen und Einhalten von Regeln dazu führt, dass Kinder immer seltener versuchen, die
definierten Grenzen zu überschreiten. Konsequente Erziehung versteht sich also in Bezug auf das
Schaffen von Regeln als beharrliches, eisernes, entschlossenes, geradliniges, hartnäckiges,
standhaftes, unbeirrtes, zielstrebiges … Verhalten und birgt somit die Gefahr des Beschneidens
von Freiraum, des Verhinderns von Erfahrungen oder des Beschränkens der
Entscheidungsfreiheit. Lediglich bezüglich der Reaktion auf Regelverstöße versteht sich
konsequente Erziehung bei einer guten Praxis als folgerichtig.
Wie erzieht man die Kinder einer Familie konsequent, wenn sich ein Kind der Familie konsequent
(im Sinne von hartnäckig …) der Erziehung entzieht? Wenn ein Kind Regeln nicht versteht,
Bedürfnisse nicht äußern kann, auf Anweisungen oder Bitten nicht reagiert?
Ein Kind mit Autismus in der Familie bedeutet, dass ständig kreative Lösungen für ganz alltägliche
Probleme gefunden werden müssen, dass Regeln gedehnt werden oder entfallen, weil sie nicht
verstanden werden oder aufgrund autismustypischer Besonderheiten nicht eingehalten werden
können.
Ein Kind mit Autismus in der Familie bedeutet auch, dass viele Regeln, die Eltern als
selbstverständlich empfinden, plötzlich hinterfragt werden, weil ein Kind in der Familie lebt,
welches die entsprechende Regel nicht bricht. Weil dieses besondere Kind nicht zu den
Buntstiften greift und auf der Tapete malt. Weil es niemals einen Stift in die Hand nimmt, weil es
keine Kinderzeichnungen produziert, die die Eltern dann stolz an eine Korkwand pinnen können.
Augenblicklich sind die Malereien der anderen Kinder auf der Tapete des Wohnzimmers etwas
ganz Wertvolles, etwas, das mit anderen Augen betrachtet wird – etwas, das man sich auch von
dem besonderen Kind erträumt. Die einzige denkbare Konsequenz (im Sinne von folgerichtig) in
der Erziehung der Kinder ist in diesem Fall, den Kindern eine begrenzte Tapetenfläche zur
Verzierung zuzuweisen, aber nicht, ihnen das Malen auf der Tapete zu untersagen. Viel zu kostbar
ist dieses Malen, auch wenn das gewährende Zuschauen der Eltern von ständiger Wehmut
begleitet wird.
Aufgrund der besonderen familiären Situation durften unsere Kinder ohne Autismus einerseits
viele Dinge ausprobieren, die in anderen Familien verboten waren. Sie hatten Freiräume und
Befugnisse, die befreundete Kinder nicht kannten. Es macht keinen Sinn, einem Kind etwas zu
verbieten, wozu man das andere Kind verlocken möchte. Was ein Kind ausprobieren darf, wozu
ein Kind ermutigt wird, das sollte auch für das andere Kind gelten.
Andererseits galten bei uns viele Regeln, die von uns nicht bewusst aufgestellt wurden, sondern
die uns das Verlangen nach einem möglichst harmonischen Alltag diktiert hat. Dazu gehörten eine
Minimierung von bestimmten sensorischen Reizen, damit das Kind mit Autismus nicht permanent
von seiner abweichenden Wahrnehmung überfordert wird, sowie eine gewisse Gleicherhaltung
räumlicher und zeitlicher Strukturen. Diese Regeln ergaben sich aus der logischen Konsequenz
eines adäquaten Umgangs mit dem Autismus des einen Kindes und wurden permanent an die
aktuellen Gegebenheiten angepasst. Diese Regeln zeichneten sich nicht durch konsequente
Starre aus, sondern durch ihre Flexibilität, um den Alltag für alle Familienmitglieder konsequent
bestmöglich zu gestalten.
Trotz (oder vielleicht aufgrund?) mangelnder Konsequenz in der Erziehung im herkömmlichen
Sinne haben unsere Kinder gelernt, dass es Dinge gibt, die verhandelbar sind, und solche, die
man als gegeben akzeptieren muss. Sie haben gelernt, dass Bedingungen sich ständig ändern
und somit neue Regeln verhandelt werden können oder aufgestellt werden müssen. Und sie
haben aus der besonderen Familiensituation etwas sehr Wertvolles mitgenommen: Sie gehen
nicht grundlos auf die Barrikaden, rebellieren nicht blind, sondern haben den Mut entwickelt, auch
außerhalb der vertrauten Umgebung der Familie Dinge, Regeln oder Gegebenheiten kritisch zu
hinterfragen und ihre Argumente sachlich darzulegen.
Eine besondere Form der konsequenten Erziehung ist die liebevolle Konsequenz, wobei es darum
geht, die Kinder nicht zu bestrafen, sondern aus den Konsequenzen, die ihre Handlungen
ergeben, lernen zu lassen. Ein Kind, das beispielsweise nicht essen will, muss nicht essen,
bekommt aber erst zur nächsten festgelegten Mahlzeit etwas Nahrhaftes. Für mich bedeutet die
Konstruktion liebevolle Konsequenz einen Widerspruch in sich. Ein derartiges konsequentes
Handeln mag zwar aus Liebe zum Kind vollführt werden, ist aber keineswegs eine liebevolle, also
zärtliche Handlung. Liebevolle Handlungen sind für mich Kuscheln, das Lesen von Geschichten,
interessante Gespräche – alles, was mein Kind mit mir zusammen gern tun möchte.
Und wie praktiziert man nun liebevolle Konsequenz am Beispiel des Essens, wenn das Kind mit
Autismus keinen Hunger oder kein Sättigungsgefühl spürt und rigide Essensvorlieben aufweist, die
nur in minimalen Spielräumen beeinflussbar sind?
Wir haben unsere Kinder weder im konventionellen Sinne noch liebevoll konsequent erzogen,
aber wir haben konsequent darauf geachtet, dass ihnen nichts zustößt, dass sie nicht ertrinken,
nicht in ein fahrendes Auto laufen … Wir haben ihnen beigebracht, eigene Erfahrungen zu
machen, Entscheidungen zu treffen, Gefahren zu erkennen und in gefährlichen Situationen
adäquat zu reagieren.
"Haben Sie Ihre Kinder konsequent erzogen?"
© Inez Maus 2014–2023