Alan Turing wurde nur 41 Jahre alt. Kurz vor seinem 42. Geburtstag nahm sich der geniale britische
Mathematiker, Kryptologe und Informatiker, der im zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Entzifferung
der mittels Enigma chiffrierten, deutschen Funksprüche beteiligt gewesen war, das Leben. Turing litt
unter Depressionen, die durch eine gerichtlich verordnete Medikation hervorgerufen wurden, da seine
Homosexualität im Großbritannien der 1950er-Jahre (und nicht nur dort) eine Straftat darstellte. Um
einer Gefängnisstrafe zu entgehen, begann Turing die Prozedur einer chemischen Kastration über
sich ergehen zu lassen.
Heutzutage ist eine derartige Vorgehensweise für die meisten Menschen, die in Europa oder
Nordamerika leben, unvorstellbar. Homosexualität wird hier als eine gleichberechtigte Form der
Sexualität verstanden. Sie ist weder abnorm noch gefährlich. Sie gilt nicht als etwas, das entweder
geheilt oder verboten werden muss, und die in Deutschland jüngst beschlossene Ehe für alle zeigt,
dass eine gesellschaftliche Akzeptanz am Entwickeln ist.
Autismus ist medizinisch betrachtet eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Zum Erscheinungsbild
von Autismus gehören unter anderem Schwierigkeiten in den Bereichen der Kommunikation und des
Sozialverhaltens sowie wiederholt auftretende Verhaltensweisen, wobei diese Schwierigkeiten als
eine Abgrenzung von der Mehrheit definiert werden. Kommunikation ist beispielsweise in vielen Fällen
von Autismus nicht unmöglich, wird aber zum Teil gänzlich anders praktiziert. Gegenwärtig reagiert
ein Großteil der Mehrheit auf diese Andersartigkeit in der Kommunikation (und damit des
Sozialverhaltens) mit der Forderung nach Anpassung. Diese Anpassung versucht man mittels
verschiedener Therapien, in denen das Verhalten der Mehrheit erlernt werden soll, zu erreichen.
Wenn Autismus als eine andere Art des Denkens und damit des Lernens aufgefasst wird, dann findet
sich in vielen der heute bei Autismus üblichen Therapien eine Parallele zu den
Umerziehungsbemühungen homosexueller Menschen in früheren Jahren. Unwillkürlich muss man
sich an dieser Stelle fragen, wie viel Potenzial möglicherweise auf diese Art und Weise zerstört wird.
Welche Leistungen könnten viele Menschen mit Autismus vollbringen, wenn Fördermaßnahmen ihren
wirklichen Bedürfnissen entsprechen würden und nicht von dem Wunsch der Umgebung nach
scheinbarer Normalität, nach einem Gleichsein getrieben würden, wenn Geförderte und Fördernde,
Autisten und Nicht-Autisten im Sinne der Inklusion als Gleichberechtigte aufeinander zugehen
würden? Welche richtungsweisenden Erkenntnisse hätte Alan Turing für die Computertechnologie
und die Informatik noch beitragen können, wenn er nicht aufgrund seiner biologischen Veranlagung
durch eine staatlich verordnete Maßnahme in den Selbstmord getrieben worden wäre?
Königin Elisabeth II. begnadigte mit einem „Royal Pardon“ Alan Turing posthum am Weihnachtstag
des Jahres 2013, fast sechzig Jahre nach seinem verfrühten Tod am 7. Juni 1954. Ich hoffe sehr,
dass sich die Erkenntnis, dass Menschen mit Autismus nicht zu „normalen“ Menschen umerzogen
werden wollen, nicht erst im Jahr 2077 durchgesetzt haben wird.
Regina vs. Turing
© Inez Maus 2014–2024