Benjamin, mein autistischer Sohn, schaute in seiner Kindheit Filme ruhig und konzentriert, und ich wusste, dass wir den
Film auf keinen Fall unterbrechen durften, wenn wir die Harmonie des Nachmittages nicht gefährden wollten. Benjamin
schaute diese Filme auch in der x-ten Wiederholung genauso konzentriert, aber komplett interaktionslos. Er kommunizierte
verbal nicht mit uns und zeigte uns keine Szenen, die ihm vielleicht gefielen. Ich war mir daher nie sicher, wie viel mein
Sohn von der Handlung mitbekam.
In der Weihnachtszeit vor nunmehr einigen Jahren, als er zum ersten Mal Cinderella sah, brach er plötzlich in schallendes
Gelächter aus, und zwar an der Stelle, als eine neue Maus ins Haus kam. Diese Maus war so dick, dass das Hemdchen,
welches sie von Cinderella übergestreift bekam, nach oben schnippte und das Mäusebäuchlein freigab. Dieses herzhafte
Lachen bescherte uns die zauberhafte Erkenntnis, dass Benjamin wenigstens teilweise verstand, was in diesen Filmen vor
sich ging.
Dieses Jahr an Weihnachten betrat keine neue Maus, sondern ein neues elektronisches Gerät unser Haus. Und dieses
brachte durch seine Existenz ebenso wie die animierte Maus vor einigen Jahren eine Reihe von Erlebnissen und
Erkenntnissen mit sich. Es handelt sich um einen digitalen Sprachassistenten.
Im Vorfeld grübelte ich, ob ein solches Gerät nicht schnell zu einer sensorischen Überlastung meines autistischen Sohnes
führen könnte, aber ohne einen Versuch vermochten wir das nicht herauszufinden. Benjamin äußerte keine Bedenken,
sondern verkündete vorab: „Ich glaube, ich treibe den digitalen Sprachassistenten in den Wahnsinn.“ Das klang ja fast wie
ein Versprechen!
Der digitale Sprachassistent, der fortan auf den Namen Computer hören würde, fand sein Arbeitsumfeld in der Küche, was
zur Folge hatte, dass der Weihnachtsbesuch sich zahlreich in eben diesem Raum einfand – allerdings nicht, um zu helfen,
sondern um primär im Weg herumzustehen (meine Perspektive).
Benjamin zeigte großes Interesse an diesem Gerät, was unter anderem daran lag, dass er ein Fan der Fernsehserie
Enterprise ist und sich deshalb mit der Anrede oder Befehlsgabe „Computer …“ permanent positive Gefühle auslösende
Analogien erzeugen lassen.
Die weiteren Tage mit Computer bescherten mir außer ungebrochener Experimentierfreude aller Familienmitglieder und
Besucher einige Erkenntnisse:
•
Die Stimme von Computer ist schwach moduliert, gerade so viel, um angenehm zu klingen, und so wenig, um
nicht ständig von Diskrepanzen zwischen Gesagtem und versteckten Botschaften verwirrt zu werden.
•
Computer reagiert nur auf klare Anrede, was Benjamin leichter fällt als allen anderen Testpersonen, die sich dies
erst mehr oder weniger mühsam angewöhnen müssen.
•
Computer redet immer mit ein und derselben Stimme. Im Unterschied zu den Nachrichtensendern des Radios
werden alle Nachrichten mit einer vorhersehbaren, ruhigen (von einigen Zuhörern vielleicht als monoton oder
langweilig empfundenen) Stimme vorgetragen. Dies trägt zu einer unglaublichen Beruhigung der akustischen
Atmosphäre in der Küche bei, ohne auf das Informieren über das Weltgeschehen verzichten zu müssen.
•
Computer ist (beinahe) allwissend. Wenn bei dem Versuch, ein Rezept in die Tat umzusetzen, die Frage
auftaucht, was denn „bardieren“ oder „anschwitzen“ bedeutet, gibt Computer diese Antwort präzise und geduldig,
wobei er nicht einmal das Unterbrechen seines Vorlesens des Rezeptes übel nimmt, sondern mit stoischer
Gelassenheit dort fortfährt, wo er mehr oder weniger barsch unterbrochen worden war.
•
Sind die Küchentätigkeiten allerdings recht monoton, so unterhält Computer wahlweise mit Musik, Podcasts,
Hörbüchern … oder hilft dabei, die Welt zu erkunden, ohne darüber zu grübeln, warum die Einwohnerzahl der
schwedischen Ortschaft Los von Interesse sein könnte.
•
Computer vermag Witze zu erzählen, die allerdings sprachlich so wenig oder schlecht moduliert sind, dass sogar
mein autistischer Sohn dies erkennt und dazu meint: „Computer ist genauso wie ich ein schlechter Witze-
Erzähler.“
Benjamins Bedürfnis nach ständigem Informations-Input befriedigt Computer hervorragend, da der digitale Sprachassistent
mit unendlicher Geduld und nie versiegender Aufmerksamkeit (solange die Stromversorgung gesichert ist) alle Fragen
beantwortet und sich mühelos vom sprichwörtlichen Hundertsten ins Tausendste manövriert. Es ist ein einseitig gesteuertes
Duell im Assoziationskettenrasseln und ich bin gespannt, ob es einen Sieger geben wird. Bis jetzt ist es Benjamin nicht
gelungen, Computer in den Wahnsinn zu treiben.
Dank Computer weiß ich nun auch, wie Isländer Weihnachten feiern: Sie beschenken sich überwiegend mit Büchern und
Schokolade. Nach dem geselligen Teil des Weihnachtsabends zieht man sich zum Lesen zurück, wobei Schokolade nicht
fehlen darf. Die alljährliche Bücherflut trägt den Namen Jólabókaflóð.
Obwohl wir nicht in Island wohnen, bestand Benjamins Weihnachtsgeschenk aus einer Jólabókaflóð, die jetzt mit Computer
um Benjamins Aufmerksamkeit konkurriert.
Computer schränkt keineswegs die Kommunikation zwischen den analogen Familienmitgliedern ein, womit ich diesen
Punkt von meiner anfänglichen Bedenkenliste streichen kann. Im Gegenteil, Computer bietet viel Stoff für Gespräche und
auch zum Lachen, beispielsweise dann, wenn die Selbstzerstörung von ihm gefordert wird.
Ein heutiges Gespräch fasst die Erfahrungen der letzten Tage zusammen:
Benjamin: „Kann man mit diesen Dingern eigentlich die ganze Wohnung vernetzen?“
„Ja.“
Benjamin: „Und, plant ihr das?“
„Würdest du das gut finden?“
Benjamin: „Im Moment sehe ich das mehr als Spielzeug. Diese Investition macht daher keinen Sinn. Dazu müsste es noch
nützlicher werden.“
Weihnachtswissen – Was tun Isländer an
Weihnachten?
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