Ich habe als Mutter oder Vater die Pflicht, meinem Kind Dinge beizubringen.
Wenn es aus eigenem Antrieb nicht kommuniziert, ist es meine Aufgabe, Wege zu finden, um
Interaktionen anzubahnen. Das Ob, also ob ich die Pflicht zum Anleiten, Beibringen, Lehren
habe, steht für mich außer Frage. Entscheidend ist hier aber das Wie, also die Art und Weise,
wie dieses Anbahnen geschieht.
Ich habe als Mutter oder Vater die Pflicht, mein Kind zu allem zu verlocken.
Das Nutzen von Fähigkeiten sowie das Vermitteln von Fertigkeiten darf nicht über Zwang erreicht
werden, sondern nur durch das Beschreiten von Wegen, die das Kind ohne Schmerzen (im
physischen und psychischen Sinne) gehen kann – in einem Tempo, das der
Entwicklungsgeschwindigkeit dieses einen (meines) Kindes entspricht, sowie in einer
Reihenfolge, die das genetisch veranlagte Entwicklungsmuster berücksichtigt.
Ich habe als Mutter oder Vater die Pflicht, mein Kind genau zu beobachten, sein Verhalten zu
entschlüsseln.
Mein autistischer Sohn denkt überwiegend in Bildern (vgl. Thinking in Pictures, Temple Grandin,
1996). Sein Bilderdenken verstehe ich als Ursprache, als seine Muttersprache im Sinne der
zuerst benutzten Kommunikationsmöglichkeit. Das visuelle Denken erklärt, warum sich mein
Sohn in seiner frühen Kindheit kaum für Sprache interessierte. Er verstand Sprache nicht, konnte
dem von ihm als Lärm wahrgenommenen Gesagten keinen Sinn entnehmen. Das frustrierte und
überforderte, was sich in seinem Verhalten deutlich zeigte.
Ich habe als Mutter oder Vater die Pflicht, mein Kind auf seinen Entwicklungswegen zu begleiten.
Die Sprache (Bildersprache), die von autistischen Kindern wie meinem Sohn von Beginn an
verstanden (erfolgreich verarbeitet) wird, setzen Kommunikationspartner meist nicht oder nur
unzureichend ein. Für diese Kinder sollte die erste Sprache demzufolge nicht die verbale,
sondern eine Bildersprache sein. Ein in Bildern denkendes, autistisches Kind versteht diese
Sprache, fühlt sich verstanden, ist somit interessiert und lernbereit.
Im zweiten Schritt wecken Bilder, die mit Buchstabenfolgen (Wörter) kombiniert werden, die
Neugier des Kindes, denn auch geschriebene Wörter sind grafische Darstellungen. Wird dann in
der dritten Stufe die verbale Sprache hinzugefügt, kann das Gehörte mit dem Gesehenen
verknüpft werden. Das gesprochene Wort des Kommunikationspartners erhält einen Sinn!
Oft wird autistischen Kindern die Fähigkeit zum intrinsischen Lernen abgesprochen.
Möglicherweise erscheint das intrinsische Lernen bei autistischen Kindern mangelhaft, weil ihre
Kommunikationsbedürfnisse in der sehr frühen Kindheit nicht einmal ansatzweise erfüllt werden
und weil sie selber (noch) nicht über die Möglichkeiten verfügen, auf ihre Art die Welt zu
erforschen, zu entdecken, zu erkunden.
Intrinsische Motivation beschreibt das innere Bedürfnis, bestimmte Dinge zu tun – aus eigenem
Antrieb zu kommunizieren, zu lernen … Betrachtet man beispielsweise die Spezialinteressen von
autistischen Kindern, die sie oft mit schier unendlicher Ausdauer und fast unerreichbarem Fleiß
pflegen, dann wäre es wohl eher angebracht, von einer (zu) ausgeprägten intrinsischen
Motivation zu sprechen. Dieses Potential darf weder zunichtegemacht werden noch ungenutzt
bleiben.
Und ich habe als Mutter oder Vater die Pflicht, Interventionen von außen gegebenenfalls zu
hinterfragen.
Die heute üblichen Lehr- und Lernmethoden werden der völlig anderen Art des Denkens und des
Lernens vieler Kinder mit Autismus in keiner Weise gerecht.
Viele Therapieformen, die bei Autismus angewendet werden, versuchen die Entwicklung so
anzubahnen, wie ein Kind ohne Autismus sich entwickeln würde: Es lernt zuerst sprechen, später
dann lesen und schreiben. Das ist mit Sicherheit nicht der richtige Weg für alle Kinder, denn
einige Kinder mit Autismus bringen sich recht früh selber das Lesen und Schreiben oder sogar
Fremdsprachen bei, selbst wenn sie (noch) nonverbal sind oder nur sehr rudimentär die verbale
Sprache benutzen.
Thesen über die Pflicht zur Verlockung
© Inez Maus 2014–2024