Eine Sanierung lässt die verbleibenden Mieter enger zusammenrücken. Als unser Wasser abgestellt
wurde, bot uns eine Nachbarin, die wir bis dahin fast nur vom Grüßen kannten, ihre Dusche an, wo
wir sogar in den Genuss von warmem Wasser kamen. Benjamin war allerdings nicht in die fremde
Wohnung zu bewegen, hatte aber zum Glück mit den vor dem Haus aufgestellten Mieter-WCs kein
Problem. Da wir eines unserer Bäder bereits selber komplett erneuert hatten, mussten wir nur zwei
Tage ohne Dusche und WC auskommen.
Benjamin verbrachte seine Ferientage im Ausweichexil mit großen Kopfhörern auf den Ohren, die
den Lärm mindern sollten, da er für gewöhnlich extrem empfindlich auf Geräusche aller Art reagiert
und auch in hohen Frequenzbereichen noch ungewöhnlich viel wahrnimmt. Am Abend erzählte mir
mein Sohn des Öfteren, dass er in seinem Campingsessel trotz der Bohr- und Stemmgeräusche
eingeschlafen sei. Sein sorgenbedingter Schlafmangel und die monotonen Geräusche der
Bohrmaschinen ließen ihn wohl trotz der Lautstärke einschlafen, weil er sich dort oben in seiner
kleinen Ecke sicher fühlte.
Kurz vor dem Beginn der Sanierung hatte Benjamin völlig überraschend den Wunsch geäußert,
einen unserer Freunde, bei welchem sein Bruder die Zeit der Sanierung verbringen würde, für ein
paar Tage besuchen zu dürfen. Bisher hatte unser Sohn außerhalb seines eigenen Bettes nur in
Hotels zusammen mit uns übernachtet. Da unser Jüngster während der Sanierungszeit für eine
knappe Woche mit seinen Freunden verreisen wollte, arrangierten wir für Benjamin einen
fünftägigen Aufenthalt bei unserem Freund Magnus. Eine historische Spielekonsole im Besitz
unseres Freundes bot für Benjamin genug Anreiz, um dieses für ihn extrem aufregende Abenteuer
zu wagen.
Für beide, für Benjamin und für Magnus, waren die fünf gemeinsam verbrachten Tage eine echte
Bereicherung. Benjamin hatte wie erwartet Probleme, sich in der fremden Umgebung einzuleben,
aber der feste Wille, diese Herausforderung zu meistern, ließ ihn dieses Hindernis überwinden.
Unser Sohn verbrachte die Zeit mit dem Durchforsten von Magnus’ DVD- und Computerspiele-
Sammlung. Vor dem Zubereiten des Essens gab er unserer Empfehlung gemäß an, was er mag
und was er ablehnt, damit es nicht zu Missverständnissen kommen konnte. Benjamin half Magnus
sogar unaufgefordert beim Kochen. Trotz ausbleibender Probleme während der Zeit bei Magnus
war Benjamin unendlich froh, wieder zu Hause zu sein, auch wenn dieses Zuhause immer noch
laut, chaotisch und dreckig war.
Magnus kannte Benjamin seit drei Jahren von seinen Besuchen bei uns. Erst wenige Wochen zuvor
hatten wir Magnus situationsbedingt über Benjamins Autismus in Kenntnis gesetzt. Nach Benjamins
Rückkehr beschrieb Magnus seine Erfahrungen mit unserem Sohn folgendermaßen: „Benjamin sitzt
ruhig da und beschäftigt sich stundenlang. An sich ist er pflegeleicht. Er lebt halt in einer anderen
Welt, das merke ich. Seine Motorik scheint etwas gestört zu sein, weil er anfängt zu zittern, sobald
etwas Wichtiges, wie DVD in Laufwerk einlegen, passiert. Was mich beeindruckt - fast verängstigt -
hat, ist, dass er schon vor der Pointe (Futurama) gelacht hat. Benjamin ist ein
Hochgeschwindigkeits-Talent. Ja, war schon interessant, das überwiegt auch. Anstrengend war es
kaum.“ (Benjamin hatte die Zeichentrickserie Futurama vorher noch nie gesehen und sie bei
Magnus in der englischen Originalversion angeschaut.)
Nach Benjamins Rückkehr von Magnus waren die größten Probleme in Verbindung mit der
Sanierung noch keineswegs überstanden, denn wenige Tage später funktionierte unser Telefon und
damit auch der Internetzugang nicht mehr. Unser Sohn litt furchtbar darunter, dass er nun nicht
einmal mehr abends über eine schnelle Internetverbindung verfügen konnte, denn der Internet-
Stick, den er tagsüber benutzte, war vergleichsweise langsam und die restlichen Familienmitglieder
wollten oder mussten berufsbedingt wenigstens ihre E-Mails abholen und beantworten. Täglich
erschien ich bei der Bauleitung im Büro und erklärte die brenzlige Situation, denn Benjamin stand
durch diese unvorhersehbare Störung kurz davor, die Nerven zu verlieren. Etliche Elektriker fanden
den Fehler nicht und ein Fachmann von der Telekom bestätigte, dass der Anschluss in Ordnung sei.
Es dauerte vierzehn Tage, bis ein weiterer Elektriker feststellte, dass die Telefonleitung auf ihrem
Weg von unserer Wohnung in den Keller bei Bohrungen im Hausflur durchtrennt worden war. Die
Erlösung, die der nun wieder funktionierende Internetzugang bei Benjamin hervorrief, war fortan
gepaart mit der Angst, dass die Handwerker wieder die Leitung beschädigen könnten.
Die veranschlagte Sanierungszeit von drei Wochen verlängerte sich aufgrund zahlreicher Mängel
bei den ausgeführten Arbeiten um weitere drei Wochen. Inzwischen waren unsere Nerven zum
Zerreißen gespannt, sodass wir nach der ersten Woche der Verlängerung beschlossen, Benjamin in
die Wohnung zurückzuholen. Wir bauten seinen Schreibtisch auf und schlossen seinen Computer
wieder an. Innerhalb von zwei Wochen zog unser Sohn mit seinem Schreibtisch und seinem
Rechner durch vier Zimmer, da wir ihn immer in einem Zimmer unterbrachten, in das wir aktuell
dann keine Handwerker hineinließen. Trotz dieser ständigen Änderungen empfand Benjamin dieses
Nomadendasein als unglaubliche Erleichterung und als Schritt zurück in die Zivilisation.
Obwohl wir uns vor der Sanierung so sehr gefürchtet hatten, konnten wir doch feststellen, dass
diese uns von außen aufgezwungene Maßnahme Benjamin in seiner Entwicklung ein kleines
Stückchen vorangetrieben hat und dass unser Sohn dadurch einen weiteren Schritt in Richtung
Selbständigkeit gegangen ist. Benjamin beschrieb die ganze Maßnahme als „nervenaufreibend,
stressig, immer für eine Überraschung gut“, wobei er wohl der einzige Mensch ist, der die
Formulierung „immer für eine Überraschung gut“ im negativen Sinne gebraucht.
- Ende -
Wohnungssanierung 3 - Handwerker: immer
für eine Überraschung gut
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