Ein liebenswerter Störenfried
© Inez Maus 2014–2024
Das Zurücklegen eines fast 600 Kilometer langen Heimweges nach einer rundum gelungenen Veranstaltung – ich danke
dem wunderbaren Publikum in Hilden – eignet sich bestens für eine Retrospektive.
Meine Veranstaltungen bescheren mir berührende, kuriose, traurige und wiederkehrende Erlebnisse.
Eine Lesung berührte einen weiblichen Gast so sehr, dass dieser den Drang verspürte, mich zu berühren. Die Frau
stürzte in der Pause nach vorn und kündigte an: „Ich bin so gerührt, ich muss Sie jetzt umarmen.“ Ehe ich mich versah
oder etwas antworten konnte, befand ich mich in den Armen dieser Frau, die ungefähr meine Größe hatte. Wenig später
begab ich mich zur Toilette und erschrak, als ich in den Spiegel sah: Ich trug ein weißes Jackett und auf der rechten
Schulter prangte ein gefühlt riesiger, hautfarbener Fleck. Es dauerte eine Weile, bis ich realisiert hatte, dass dies die
Schminke der impulsiven Zuhörerin war. Ein Entfernen des Flecks war unmöglich, also begann ich die zweite Hälfte der
Lesung mit einer passenden Bemerkung. Die Verursacherin des Flecks litt sehr unter dem Missgeschick, denn sie schrieb
mir noch drei E-Mails, in denen sie sich nach dem Erfolg der Fleckentfernung erkundigte.
Zu den wiederkehrenden Erlebnissen gehören Missverständnisse bei technischen Absprachen. Sehr ärgerlich ist es,
wenn der zuständige Techniker eines Unternehmens einen Analog-Anschluss nicht von einem Digital-Anschluss
unterscheiden kann und der Meinung ist, ein VGA-Kabel werde schon an einen HDMI-Anschluss passen. Die Frage nach
einem Adapter löste nur Verwunderung aus. Spätere Referenten dürften allerdings von diesem Missgeschick profitiert
haben, denn nach der Veranstaltung erreichte mich eine nette Entschuldigung mit der Mitteilung, dass man einen
derartigen Adapter anschaffen werde.
Workshops, Fortbildungen oder ähnliche Veranstaltungen in Schulen oder bei Gastgebern, die fremde Räume nutzen,
bestreite ich gewöhnlich mit eigener Technik. Die Anforderungen an den Veranstalter sind also minimal, denn ich benötige
lediglich einen Tisch, eine Präsentationsfläche und einen Stromanschluss. Das scheint leicht zu realisieren zu sein, ist es
aber keineswegs – beispielsweise dann nicht, wenn sich die Steckdose für den Stromanschluss in sechs Metern
Entfernung zum Tisch und damit zur Präsentationsfläche befindet. Glücklicherweise fand sich unter den Gästen jemand,
der ein in der Nähe wohnendes Familienmitglied beauftragen konnte, rasch ein Verlängerungskabel vorbeizubringen.
Die Diskussion der Frage nach den Ursachen von Autismus verläuft meist so, dass die heutigen wissenschaftlichen
Erkenntnisse zu diesem Thema akzeptiert, also angenommen werden. Meist – gelegentlich kommt es auch vor, dass
Aussagen wie „Ja, aber die Eltern erziehen das Kind ja so [dass es autistisch wird]“ entgegnet werden. Manchmal bringt
man solche Wortmeldungen nicht mit Wissen, sondern mit ähnlich gelagerten Gegenargumenten zum Schweigen. Ein
von derartigen Einwänden genervter Teilnehmer konterte sarkastisch: „Das bekommt man doch mit Erziehung niemals so
perfekt hin!“
Jeder Autor wünscht sich bei der Präsentation seiner Texte die volle Aufmerksamkeit des Publikums. Zuhörer, die
tuscheln oder ein wenig dösen, sind unerwünscht, und erst recht schlafende Besucher. Während einer Lesung hörte ich
leise Schnarchgeräusche, die im Laufe der Veranstaltung an Lautstärke zunahmen. Sehr irritierend. Während ich meine
Texte vortrug, versuchte ich den Störenfried ausfindig zu machen. Jedes Mal, wenn ich in die Runde schaute, blickten
mich interessierte Zuhörer an. Nach einer Weile beruhigte ich mich, indem ich mir sagte: ‚Na gut, es muss ja nicht
unbedingt jeder meine Texte gut finden.‘ Ich marterte mein Hirn, ob ich irgendwie auf diese Störung reagieren oder sie
lieber ignorieren sollte. Dabei fiel mir auf, dass sich keiner der Gäste an dem Schnarchen zu stören schien. Hörten sie
das etwa alle nicht? Es war mit Sicherheit keine Einbildung. Ich verschob das Nachdenken darüber, wie ich mit dem
Schnarchen des Lesungsgastes umgehen werde, auf die Pause. Eine gute Entscheidung, denn die Gäste, die nun den
Raum für einen Imbiss im Vorraum verließen, gaben den Blick auf einen Blindenhund frei, der friedlich schlafend unter
dem Stuhl eines Gastes lag. Damit waren sämtliche Rätsel gelöst. Der liebenswerte Störenfried hatte sich seine Auszeit
redlich verdient, denn er ermöglichte seinem Besitzer die Teilnahme an der Lesung.