„Bitte lächeln!
 
 
 
  © Inez Maus 2014–2025
 
 
 
 
 
 
  
  
 
 
  Eine radikale Änderung ihres Lebens brachte unsere Familienzahnärztin dazu, die Praxis aufzugeben und nach 
  Amerika auszuwandern. Mir blieb demzufolge nichts anderes übrig, als einen neuen Zahnarzt für meinen autistischen 
  Sohn zu suchen.
  Der erste Versuch …
  Bei meinem Betreten wirkt die Zahnarztpraxis auf mich hell und freundlich. Hier praktiziert lediglich ein Arzt, weshalb 
  der Warteraum mit erfreulicherweise spärlich eingesetzten Dekorationsobjekten überschaubar ist.
  Die Wartezeit verbringe ich damit, die Geräusche um mich herum zu erfassen.
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  Ein Radio dudelt 80er-Jahre-Musik, die von Werbung unterbrochen wird.
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  Der Anmeldetresen ist in den Wartebereich integriert, sodass die Gespräche der ankommenden 
  Patienten und Telefonate mitgehört werden müssen, wenn man nicht über die Fähigkeit verfügt, 
  derartige Dinge auszublenden.
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  Bei meiner Ankunft befinden sich nur drei Patienten im Wartebereich, von denen zwei sich 
  unbekannte Personen ganz spontan ein Gespräch über Hüftoperationen und missglückte 
  chirurgische Eingriffe beginnen.
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  Ich versuche, diesem Gespräch nicht zu folgen, und konzentriere mich auf das beruhigende 
  Blubbern des Wasserspenders, bis ich mich frage, ob mein autistischer Sohn dieses Geräusch
  ebenfalls als angenehm einstufen würde.
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  Mein Nachdenken wird durch ein Duett von Bohrgeräuschen unterbrochen. Ein fleißiger Handwerker
  irgendwo in diesem Haus wetteifert mit dem geschäftigen Zahnarzt im Nebenraum. 
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  Plötzlich verstummen beide, sodass der leise summende Ventilator endlich seine berechtigte
  Chance erhält, von mir beachtet zu werden.
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  Diese Beachtung ist von kurzer Dauer, denn das Handy meiner Sitznachbarin vibriert. Die 
  Hüftoperation ist schlagartig kein Thema mehr, denn die anrufende Person muss dringend detailliert 
  über den Grund des Zahnarztbesuches der Angerufenen aufgeklärt werden.
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  Kurz darauf werden die unfreiwillig Mithörenden erlöst, denn die Frau wird aufgerufen. Die sich 
  anschließende Stille, bestehend aus dem leise dudelnden Radio, dem blubbernden Wasserspender 
  und dem surrenden Ventilator, wird vom Geräusch der sich öffnenden Eingangstür zerrissen. Bei 
  meinem Eintritt in die Praxis habe ich dieses Geräusch deutlich leiser empfunden.
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  Die geöffnete Praxistür ermöglicht es einigen vorbeifahrenden Autos, auf sich aufmerksam zu 
  machen.
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  Das automatische Schließen der Eingangstür stellt den vorherigen Zustand der relativen Ruhe 
  wieder her…
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  … bis eine Fliege mich nervend umkreist. Wenigstens werden hier keine Grillen zu hören sein.
  Beim Erfassen der Geräusche beschleicht mich das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ein Geräusch fehlt. 
  An der meinem Sitzplatz gegenüberliegenden Wand hängt ein überdimensionierter Fernseher. Der Blick des willigen 
  Betrachters wird durch den Regenwald geführt. Ein Faultier hängt gefühlt minutenlang auf dem Bildschirm, um dann 
  von hyperaktiven Kolibris abgelöst zu werden ...
  Plötzlich erscheint das hübsche Gesicht einer Frau auf dem Monitor, um kurz darauf betont schmerzverzogen entstellt 
  zu werden. Einen Moment lang glaube ich, eine Lektion in sozialem Kompetenztraining, Übung: Erkennen von 
  Emotionen, zu erhalten, aber es handelt sich hierbei nur um die Einstimmung auf den kommenden Beitrag. Dieser 
  klärt mit lehrbuchartigen, ästhetischen Zeichnungen und bunten, animierten Pfeilen darüber auf, was der Zahnarzt in 
  wenigen Augenblicken mit dem Patienten vorhaben könnte. Wenigstens fließt dabei weder Blut noch produzieren die 
  hochmodernen Geräte des Fernseharztes Geräusche, denn „Arzt-TV“ wird hier seinem Namen vollständig gerecht 
  und bedient den auditiven Empfangskanal (zum Glück) nicht.
  Ich werde aufgerufen und gehe (fast) ganz entspannt in den Behandlungsraum. Hier wird ebenfalls Radiomusik 
  gespielt und der Zwillingsbruder des Ventilators fällt in mein Blickfeld. Der Wasserspender hat einen solchen nicht, 
  aber der Behandlungsraum ist ein Durchgangszimmer und wird während meiner sehr kurzen Verweildauer dort 
  zweimal frequentiert – Tür auf, Tür zu, andere Tür auf, eine Kiste ergreifen, andere Tür wieder zu, fünf Worte zum 
  Arzt, erste Tür wieder auf, erste Tür wieder zu …
  Mein Fazit: Ein verlässlicher Termin zu Beginn der Sprechstunde bietet die Möglichkeit, nahezu alle störenden 
  Geräusche zu vermeiden, besonders dann, wenn sich das Einschalten der Patienten-Bespaßung an diesem Tag ein 
  wenig verzögern lässt. Eine Vereinbarung, dass das Behandlungszimmer während der Untersuchung nicht als 
  Durchgangszimmer genutzt wird, mindert den sozialen Stress und erhöht somit die Chance auf einen gelingenden 
  Zahnarztbesuch.
  Beim Verlassen streift mein Blick das Schild auf der Theke des Empfangs, welches mir schon beim Anmelden 
  aufgefallen war. Darauf findet sich die freundliche Aufforderung: „ Bitte lächeln!!!“
  Ich überlege, wie ich meinem autistischen Sohn die Bedeutung dieses Schildes erklären soll. Warum soll hier wann 
  und wo oder wobei gelächelt werden?
  PS: Ein Wortspiel – passend zum Artikel zeigt das obige Foto einen Löwenzahn.