„Bitte lächeln!
© Inez Maus 2014–2024
Eine radikale Änderung ihres Lebens brachte unsere Familienzahnärztin dazu, die Praxis aufzugeben und nach
Amerika auszuwandern. Mir blieb demzufolge nichts anderes übrig, als einen neuen Zahnarzt für meinen autistischen
Sohn zu suchen.
Der erste Versuch …
Bei meinem Betreten wirkt die Zahnarztpraxis auf mich hell und freundlich. Hier praktiziert lediglich ein Arzt, weshalb
der Warteraum mit erfreulicherweise spärlich eingesetzten Dekorationsobjekten überschaubar ist.
Die Wartezeit verbringe ich damit, die Geräusche um mich herum zu erfassen.
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Ein Radio dudelt 80er-Jahre-Musik, die von Werbung unterbrochen wird.
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Der Anmeldetresen ist in den Wartebereich integriert, sodass die Gespräche der ankommenden
Patienten und Telefonate mitgehört werden müssen, wenn man nicht über die Fähigkeit verfügt,
derartige Dinge auszublenden.
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Bei meiner Ankunft befinden sich nur drei Patienten im Wartebereich, von denen zwei sich
unbekannte Personen ganz spontan ein Gespräch über Hüftoperationen und missglückte
chirurgische Eingriffe beginnen.
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Ich versuche, diesem Gespräch nicht zu folgen, und konzentriere mich auf das beruhigende
Blubbern des Wasserspenders, bis ich mich frage, ob mein autistischer Sohn dieses Geräusch
ebenfalls als angenehm einstufen würde.
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Mein Nachdenken wird durch ein Duett von Bohrgeräuschen unterbrochen. Ein fleißiger Handwerker
irgendwo in diesem Haus wetteifert mit dem geschäftigen Zahnarzt im Nebenraum.
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Plötzlich verstummen beide, sodass der leise summende Ventilator endlich seine berechtigte
Chance erhält, von mir beachtet zu werden.
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Diese Beachtung ist von kurzer Dauer, denn das Handy meiner Sitznachbarin vibriert. Die
Hüftoperation ist schlagartig kein Thema mehr, denn die anrufende Person muss dringend detailliert
über den Grund des Zahnarztbesuches der Angerufenen aufgeklärt werden.
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Kurz darauf werden die unfreiwillig Mithörenden erlöst, denn die Frau wird aufgerufen. Die sich
anschließende Stille, bestehend aus dem leise dudelnden Radio, dem blubbernden Wasserspender
und dem surrenden Ventilator, wird vom Geräusch der sich öffnenden Eingangstür zerrissen. Bei
meinem Eintritt in die Praxis habe ich dieses Geräusch deutlich leiser empfunden.
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Die geöffnete Praxistür ermöglicht es einigen vorbeifahrenden Autos, auf sich aufmerksam zu
machen.
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Das automatische Schließen der Eingangstür stellt den vorherigen Zustand der relativen Ruhe
wieder her…
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… bis eine Fliege mich nervend umkreist. Wenigstens werden hier keine Grillen zu hören sein.
Beim Erfassen der Geräusche beschleicht mich das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ein Geräusch fehlt.
An der meinem Sitzplatz gegenüberliegenden Wand hängt ein überdimensionierter Fernseher. Der Blick des willigen
Betrachters wird durch den Regenwald geführt. Ein Faultier hängt gefühlt minutenlang auf dem Bildschirm, um dann
von hyperaktiven Kolibris abgelöst zu werden ...
Plötzlich erscheint das hübsche Gesicht einer Frau auf dem Monitor, um kurz darauf betont schmerzverzogen entstellt
zu werden. Einen Moment lang glaube ich, eine Lektion in sozialem Kompetenztraining, Übung: Erkennen von
Emotionen, zu erhalten, aber es handelt sich hierbei nur um die Einstimmung auf den kommenden Beitrag. Dieser
klärt mit lehrbuchartigen, ästhetischen Zeichnungen und bunten, animierten Pfeilen darüber auf, was der Zahnarzt in
wenigen Augenblicken mit dem Patienten vorhaben könnte. Wenigstens fließt dabei weder Blut noch produzieren die
hochmodernen Geräte des Fernseharztes Geräusche, denn „Arzt-TV“ wird hier seinem Namen vollständig gerecht
und bedient den auditiven Empfangskanal (zum Glück) nicht.
Ich werde aufgerufen und gehe (fast) ganz entspannt in den Behandlungsraum. Hier wird ebenfalls Radiomusik
gespielt und der Zwillingsbruder des Ventilators fällt in mein Blickfeld. Der Wasserspender hat einen solchen nicht,
aber der Behandlungsraum ist ein Durchgangszimmer und wird während meiner sehr kurzen Verweildauer dort
zweimal frequentiert – Tür auf, Tür zu, andere Tür auf, eine Kiste ergreifen, andere Tür wieder zu, fünf Worte zum
Arzt, erste Tür wieder auf, erste Tür wieder zu …
Mein Fazit: Ein verlässlicher Termin zu Beginn der Sprechstunde bietet die Möglichkeit, nahezu alle störenden
Geräusche zu vermeiden, besonders dann, wenn sich das Einschalten der Patienten-Bespaßung an diesem Tag ein
wenig verzögern lässt. Eine Vereinbarung, dass das Behandlungszimmer während der Untersuchung nicht als
Durchgangszimmer genutzt wird, mindert den sozialen Stress und erhöht somit die Chance auf einen gelingenden
Zahnarztbesuch.
Beim Verlassen streift mein Blick das Schild auf der Theke des Empfangs, welches mir schon beim Anmelden
aufgefallen war. Darauf findet sich die freundliche Aufforderung: „ Bitte lächeln!!!“
Ich überlege, wie ich meinem autistischen Sohn die Bedeutung dieses Schildes erklären soll. Warum soll hier wann
und wo oder wobei gelächelt werden?
PS: Ein Wortspiel – passend zum Artikel zeigt das obige Foto einen Löwenzahn.