„Selbsthilfegruppen
© Inez Maus 2014–2024
Vor einigen Tagen befand ich mich abends auf dem Heimweg von einem Treffen unserer Selbsthilfegruppe – eine
Gruppe von Eltern erwachsener autistischer Kinder. Ein Stück des Weges fuhr ich gemeinsam mit einer Teilnehmerin
dieser Gruppe. In der S-Bahn erzählte sie, dass einer ihrer Bekannten ständig nachfragt, warum sie diese Gruppe
besuche, sie könne doch auch mit ihm über ihre Probleme reden.
Bevor meine Begleiterin ausführen konnte, was sie ihrem Bekannten bereits mehrfach geantwortet hatte, mischten
sich zwei Mitreisende, die die restlichen Plätze in unserem Viererabteil belegten, in das Gespräch ein. Der eine Mann
äußerte: „Ich bin bei den Anonymen Sexsüchtigen“, und verstummte wieder. Ohne auf diese Bemerkung zu
reagieren, begann der zweite Fahrgast mit einem Monolog: „Ich habe gerade das Wort Selbsthilfegruppe
aufgeschnappt.“ Dann erzählte er, dass er seit mehr als zwanzig Jahren zu den Anonymen Alkoholikern gehe, schon
lange trocken sei, seine Frau ihn nicht verstehe und verlange, er solle da nicht mehr hingehen … Er zwang uns
dieses Nicht-Gespräch auf, obwohl er nicht einmal wusste, warum wir eine Selbsthilfegruppe besuchen.
Dieses Erlebnis ließ meine eigenen Erfahrungen mit derartigen Gruppen Revue passieren. Es gibt sehr
verschiedenartige Zusammenschlüsse in Form von Selbsthilfegruppen – anonyme und nicht anonyme, offene und
geschlossene, themenbasierte und themenoffene Gruppen …
Eine themenoffene Gruppe, die zudem auch offen für Teilnehmer war – also jeder kann kommen oder fernbleiben, wie
es ihm passt – erwies sich für mich als ungeeignet. Jedes Mal trifft man fast nur unbekannte Personen und hört neue
Lebensgeschichten. Es fühlte sich an, als ob ich im Internet surfe und Lebensberichte lese, ein echter Austausch kam
nicht zustande. Außerdem hatte ich hier das Gefühl, dass der professionelle Organisator diese Gruppe zum Sammeln
von Fallbeispielen nutzte.
Die meisten Gruppen begrüßen neue Teilnehmer mit dem Satz: „Wir duzen uns hier alle.“ Das mag zwar ein Gefühl
der Vertrautheit schaffen, aber als Aufnahmeritual einer Selbsthilfegruppe war es für mich gewöhnungsbedürftig. In
nicht anonymen Gruppen kursieren oft Listen, in die verschiedene Daten eingetragen werden sollen. Den Namen und
die E-Mail-Adresse anzugeben, ist für mich plausibel, besonders dann, wenn die Gruppe einen Verteiler zum
Austauschen von Informationen betreibt. Wenn der Leitende mit pädagogischem Hintergrund aus Gewohnheit dann
aber auch die Wohnanschrift, die Diensttelefonnummer oder ähnliche Daten erfassen möchte, sollte man nicht dem
Gruppenzwang folgen.
Viele Gruppen haben ihre eigenen Regeln. Dazu kann gehören, dass jeder Teilnehmer bei jedem Treffen etwas
berichten soll. Meist geht man aus genau diesem Grund zu derartigen Treffen – um etwas zu erzählen, um etwas von
den anderen zu erfahren und letztendlich, um zu erleben, dass man mit seinen Problemen nicht allein auf dieser Welt
ist. Nicht immer ist man aber dazu in der Lage. Als ich mich in einer schwierigen Situation befand, aber noch nicht in
der Verfassung war, darüber zu reden, und trotzdem die Nähe einiger Gruppenteilnehmer als wohltuend empfand,
wurde versucht, mich mit Bemerkungen wie „Das bleibt doch unter uns“ zum Reden zu bringen. Ohne Erfolg, worauf
mir der Austritt aus der Gruppe nahegelegt wurde.
Die perfekt zur eigenen Persönlichkeit passende Selbsthilfegruppe wird sich nicht finden lassen. Daher ist es wichtig,
dass man vorab herausfindet, warum man eine solche Gruppe aufsuchen möchte und inwieweit man bereit ist, vom
eigenen Idealbild der Gruppe abzuweichen. Die persönlichen Ziele – was möchte und kann ich geben und was
erwarte ich zu bekommen – sind das wichtigste Auswahlkriterium für eine Gruppe. Und man sollte von Beginn an
seine eigenen Grenzen deutlich ziehen, beispielsweise Themen benennen, zu denen man aus persönlichen Gründen
nichts beisteuern wird. Enorm wichtig ist es ebenfalls, regelmäßig zu überprüfen, ob der Besuch der entsprechenden
Gruppe immer noch den gewünschten Effekt hervorbringt. Aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit, um nichts
Geeigneteres suchen zu müssen, oder als Flucht vor anderen Problemen die Gruppe weiterhin zu besuchen, kann
mehr Schaden anrichten als Nutzen hervorbringen. Dem Fahrgast in der S-Bahn würde es vielleicht helfen, wenn er
eine Gruppe sucht, die er mit seiner Frau gemeinsam aufsuchen kann.