Ostsee-Bernsteinchen
© Inez Maus 2014–2024
Am Wochenende endet in Berlin die Grüne Woche, welche die international wichtigste Messe für
Ernährungswirtschaft, Landwirtschaft und Gartenbau ist und traditionell in den Messehallen am Funkturm stattfindet.
Von einer lokalen Warenbörse im Jahr 1926 hat sich die Grüne Woche zur weltgrößten Messe dieser Art entwickelt
und ist ein wahrer Besuchermagnet.
Fragen mich Eltern, ob man eine solche Veranstaltung mit einem autistischen Kind besuchen kann, dann rate ich
davon ab, denn Probleme sind eigentlich vorhersehbar: Die Besuchermengen verursachen erheblichen sozialen und
sensorischen Stress, dazu kommen Gerüche, Farben, Lichteffekte, mannigfaltige Informationen, die verarbeitet
werden müssen – die Liste ließe sich fortsetzen.
Trotzdem habe ich vor einigen Jahren mit meinem autistischen Sohn Benjamin diese Messe besucht – nicht aus
Unwissenheit, nicht aus Ignoranz, auch nicht aus Dummheit, sondern weil es sein expliziter Wunsch gewesen war.
Benjamin war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und hatte ein Jahr zuvor begonnen, verbal mit uns zu
kommunizieren – bruchstückhaft, schwer verständlich, aber es war ein Durchbruch. Überall in der Stadt hingen
Plakate, die auf das Ereignis hinwiesen und Benjamin verlockten, diesen Wunsch zu äußern. So gut ich es
vermochte, versuchte ich, ihn darüber aufzuklären, was ihn dort erwarten würde. Noch nie zuvor hatten wir ein
derartiges Ereignis mit ihm besucht. Meine Vernunft riet mir eigentlich, diesen Wunsch nicht zu erfüllen. Aber wie
sollte ich das meinem Sohn erklären? Und würde er jemals wieder einen Wunsch äußern, wenn keine Erfüllung
erfolgt? Riskierten wir damit womöglich, dass er wieder verstummte? Wir mussten es versuchen!
Eine gründliche Vorbereitung war unabdingbar. Sie sah folgendermaßen aus:
Ich redete mit Benjamin über das zu Erwartende und zeigte ihm Fotos aus vergangenen Jahren, in denen ich
die Messe mit seinem älteren Bruder besucht hatte.
Der ältere Bruder, der unbedingt mitkommen wollte, besuchte einige Tage zuvor die Messe mit mir allein. Für
Benjamins Besuchstag vereinbarte ich mit ihm, dass er jederzeit klaglos die Messe verlässt, wenn es Benjamin
zu viel wird – egal, ob das nach einer halben oder nach vier Stunden der Fall sein sollte.
Für Benjamin nahm ich vorsichtshalber Verpflegung und Gegenstände, die ihn beruhigen, mit.
Für den Rückweg plante ich ein Taxi ein, falls dies notwendig sein sollte.
Basierend auf meinen früheren Messeerfahrungen legte ich eine Route fest, die die hoch frequentierten Hallen
mied.
Entgegen meinen Befürchtungen verlief dieser Tag nahezu problemlos. Benjamins Erwartungen wurden erfüllt, seine
Wissbegierde befriedigt und ich machte die Erfahrung, dass er sehr genau seine Grenzen kennt, denn er verkündete
gegen Mittag völlig überraschend, dass er jetzt „nach Hause muss“, was wir auf der Stelle in die Tat umsetzten.
Mir bescherte dieser Tag noch ein besonderes Erlebnis:
An einem Messestand einer Ostseeregion befand sich ein verwittertes Holzboot, welches mit gelblichem Sand gefüllt
war. Während die Eltern über attraktive Urlaubsangebote informiert werden sollten, durften ihre Kinder in diesem Boot
nach winzig kleinen Bernsteinstückchen suchen. Das war so mühsam, dass die anderen kleinen Besucher froh
waren, wenn sie ein oder zwei Stückchen gefunden hatten, und zufrieden weiterzogen. Benjamin dagegen fischte
absolut zielsicher ein Stück nach dem anderen heraus und war sofort wieder die unfreiwillige Attraktion an diesem
Stand, weil keiner der Umstehenden wusste, wie das denn funktionierte. Als sich seine kleine Hand sichtbar mit den
honiggelben Schätzen füllte, kam eine üppige Frau im Trachtenkostüm vom Stand ziemlich wütend zu uns herüber
und beschimpfte Benjamin, dass dies so nicht gedacht sei und dass er gefälligst auch noch etwas für die anderen
Kinder übrig lassen solle. An mich gewendet meckerte sie, ich solle meinem „Buben mal Anstand“ beibringen. Eine
ältere, rothaarige Frau, die neben mir stand und Benjamin äußerst amüsiert und wohlwollend zugeschaut hatte,
entgegnete: „Dann hängen Sie doch ein Schild auf: Nur einen Stein nehmen!“ Das ließ das Gemecker verstummen
und ich war dieser Frau dankbar, denn es kam nicht oft vor, dass fremde Personen meinen Sohn spontan in Schutz
nahmen. Trotzdem war es unendlich schwer, Benjamin aus dieser faszinierenden Tätigkeit zu lösen, denn diese
Beschäftigung hatte keinen Endpunkt, der ihm einen Ausstieg erlaubt hätte. Andere Kinder verließen diese
Beschäftigung schnell wieder, weil sie so beschwerlich war oder weil der nächste Stand auch interessante Dinge zu
bieten hatte. Aber für Benjamin war hier alles perfekt: Er konnte weichen Sand durch seine kleinen Finger rieseln
lassen und wurde dafür noch mit Schätzen belohnt, die er wohlig in seiner rechten Hand zusammenpresste.
(Auszug aus: „Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Mit Autismus durch die Schulzeit“, Inez Maus,
Engelsdorfer Verlag, 2014)