Das Kind am Gartenzaun
© Inez Maus 2014–2024
Vor ein paar Tagen lief ich nach längerer Zeit eher zufällig am ehemaligen Kindergarten meines autistischen Sohnes
Benjamin vorbei. Benjamins Kindergartenzeit gehört zu den dunklen Episoden unserer Familiengeschichte, da mein
Sohn mit vielen, im Nachhinein betrachtet typischen Auffälligkeiten, aber ohne Autismus-Diagnose in einem
Integrationskindergarten zurechtgebogen werden sollte.
Nachdem wir die Kindergartenzeit unseres Sohnes aus eben genanntem Grund vorzeitig beendet hatten, vermied ich
es lange Zeit, an diesem Gebäude vorbeizugehen. Es lag nicht in meinem üblichen Bewegungsradius und geriet
somit langsam in eine heilsame Vergessenheit.
Als ich neulich dort vorbeikam, rannten, tobten und spielten im Garten Kinder, so, wie man dies von einem
Kindergarten erwartet. Am Gartenzaun zur Straße allerdings stand ein kleiner Junge, dick eingepackt in
Winterkleidung. Mit den unbekleideten Händen hatte er das Gitter auf Höhe seines Kopfes umfasst. Er schaute
intensiv die Straße hinunter und schien auf jemanden zu warten. Die Kinder im Garten und die vorbeigehenden
Passanten beachtete er nicht.
Eine ganz alltägliche Szene – und doch versetzte sie mir einen tiefen Stich ins Herz. Nicht, weil dieser kleine Junge
unglücklich, ängstlich oder einsam wirkte. Er schien einfach nur zu warten. Aber der Anblick des am Zaun stehenden
Jungen riss alte Wunden auf. Er erinnerte mich an einen Tag im Hochsommer – jenen Tag, an dem wir beschlossen,
Benjamin aus dem Kindergarten herauszunehmen.
An diesem Tag wirkte mein Sohn sehr verstört, als ich ihn abholen wollte. Eine seiner Erzieherinnen presste ihn
gegen den Gartenzaun am anderen Ende des Gartens. Benjamin, nicht fähig sich verbal mitzuteilen, weinte bitterlich
und versuchte wegzulaufen, aber ehe ich bei ihm ankam, riss ihm die Erzieherin die Kleidung vom Körper, weil sie
meinte, er wolle unter dem Sprenger duschen. Nackt, voller Panik und in Tränen aufgelöst befreite sich Benjamin aus
ihrer Umklammerung und rannte zu mir. Ich setzte mich mit ihm erst einmal auf eine Gartenbank, um ihn zu
beruhigen …
Auf meine Frage nach ihren Beweggründen antwortete die Erzieherin: „Der hat wohl einen Stich von der Hitze.“
Benjamins Angst vor dem Sprenger wurde von einigen Erzieherinnen ignoriert, weil sie die Meinung vertraten, dass
alle Kinder im Sommer gern duschen und sich mit Wasser bespritzen. Seine Abwehr von Körperkontakt durch
familienfremde Personen wurde ebenfalls ignoriert, weil Kinder sich durch Berührungen trösten oder ermuntern
lassen und weil man sie gelegentlich zu ihrem eigenen Schutz festhalten muss. Dem Festhalten würde ich nur
zustimmen, wenn sich das Kind in unmittelbarer Gefahr befindet.
Inzwischen habe ich viele engagierte und über Autismus aufgeklärte Mitarbeiter in Kindertagesstätten und Schulen
kennengelernt. Mitarbeiter, die kein Duschen unter dem Sprenger zu erzwingen versuchen, die Körperkontakt nicht
mit Gewalt durchsetzen wollen, die Rücksicht auf Besonderheiten der Wahrnehmung dieser Kinder nehmen …
Oft habe ich das Gefühl, dass sich in den letzten Jahren vieles bei der Betreuung von autistischen Kindern zum
Positiven gewendet hat. Manchmal jedoch erreichen mich immer noch schockierende Zuschriften von besorgten
Eltern, aber auch von Fachpersonen. Wie beispielsweise der Bericht einer Mutter, deren autistisches Kind beim
Kontakt mit Buddelsand schmerzgeplagt weint und aus diesem Grund den Sandkasten meidet. Die „Therapie“ der
Erzieherin zum Erreichen von „normalem Spielverhalten“ bestand darin, das Kind mit Sand einzureiben. – Es gibt
noch viel aufzuklären!