Die fünfte Jahreszeit
© Inez Maus 2014–2024
Vor wenigen Jahren musste ich anlässlich einer Veranstaltung genau zur Karnevalszeit nach Düsseldorf reisen. Als
Berliner habe ich dieser Tatsache vorab nicht viel Bedeutung beigemessen. Nach meiner Ankunft ging ich erst einmal
zu McDonald’s, um meine Lebensgeister nach der langen Zugfahrt mit einem Kaffee zu wecken. In der
Warteschlange befand ich mich plötzlich zwischen Darth Vader und einem Eisbären – und wurde sehr, sehr komisch
angeschaut, weil ich nicht verkleidet war. Ich kam mir vor, wie ein Außerirdischer, und wurde wohl auch wie ein
solcher wahrgenommen.
Einen Tag später betrat ich ein Café, um zu frühstücken. Natürlich würde ich wieder der Außerirdische sein, aber
sollte ich deshalb auf ein Frühstück verzichten? Ich suchte mir einen leeren Tisch und zog meinen Wintermantel aus.
In diesem Moment stürzten zwei – ich weiß nicht, wer oder was sie waren und welches Geschlecht sie hatten, darum
nenne ich sie Kostümierte – also zwei Kostümierte auf mich zu und lobten meine Verkleidung. Ich – mit einem kurzen
Rock, einer weißen Bluse und einem schwarzen Jackett bekleidet – sah die beiden wohl ziemlich verwirrt an. Unbeirrt
fragten sie mich, ob ich mich als „die scharfe Lehrerin“ aus dem Manga, dessen Namen ich mir nicht zu merken
vermochte, verkleidet habe.
Diese Begebenheiten zeigen einerseits, wie schnell man ungewollt zum Außenseiter werden kann, aber auch, dass
besondere Umstände wie die Karnevalszeit das Verhalten von Menschen ändern, sie dichter zusammenrücken und
den Umgang miteinander lockerer gestalten lassen.
Der Faschings- oder Karnevalszeit wird von Eltern autistischer Kinder oft mit gemischten Gefühlen entgegengesehen.
Es gibt autistische Kinder, die weder feiern noch sich verkleiden möchten/können. Aus meiner Erfahrung haben recht
viele autistische Kinder Spaß daran, sich zu verkleiden, wenn die Materialien der Kostüme ihren sensorischen
Besonderheiten entgegenkommen und wenn sie mit dem gewählten Kostüm etwas verbinden, wenn das Kostüm
beispielsweise mit den Spezialinteressen des Kindes in Einklang steht.
Stress entsteht bei Faschings- oder Karnevalsfeiern durch sensorische Belastungen wie Musik, Gesänge,
Sprechchöre, Lichteffekte, platzende Luftballons (oder die Angst vor platzenden Luftballons) … und durch das
unstrukturierte Durcheinanderwirbeln der Teilnehmer. Die sozialen Faktoren des gemeinsamen Spiels, des
Herumalberns, des Missverstehens der Handlungen der entsprechend Kostümierten, des dichten, unplanbaren
Kontaktes und der fröhlichen Ausgelassenheit können derartige Feiern schnell zu einem Alptraum werden lassen.
Das muss aber nicht so sein. Hilfreich ist es, mit dem autistischen Kind vorher genau zu besprechen, was es möchte
und was nicht, und diese Wünsche dann gezielt in die Tat umzusetzen. Mein autistischer Sohn Benjamin liebte es, zur
Faschingsfeier eine Kleiderkammer zu einem bestimmten Thema zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die
Geschwister fanden dies äußerst kreativ. So kam es, dass sich alle Kinder beispielsweise beim Thema Mittelalter
abwechselnd als Ritter, Drache, Geist, König, Waschfrau … verkleideten und sich sämtliche Spiele um dieses Thema
drehten. Dass dabei das weiche Stoffkettenhemd dem jüngsten Kind bis zum Knöchel reichte und den Popo des
ältesten Kindes kaum zu bedecken vermochte, störte niemanden. Somit bescherte wenigstens die häusliche
Faschingszeit Benjamin schöne Erlebnisse.
Außerhalb des Zuhause ließ sich eine entspannte Faschingszeit nur ansatzweise umsetzen, sodass Benjamin am
Schulfasching zwar kostümiert teilnahm, aber viel Zeit mit seiner Schulhelferin im Erste-Hilfe-Raum der Schule, den
er als Ruheraum nutzen durfte, verbrachte.