Der Ferrari unter den
Ablassbriefen
© Inez Maus 2014–2024
Die vollendete Stufe der Teilhabe als unveräußerliches Menschenrecht ist dann erreicht, wenn Einbeziehung in die
Gesellschaft aus einem inneren, spontanen Bedürfnis heraus ermöglicht bzw. verwirklicht wird, ohne dass hierzu
Regeln aufgestellt werden müssen und ohne dass die Inkludierenden Lob, Anerkennung oder Ähnliches dafür
erwarten. Wenn aus einem tief verwurzelten Bedürfnis heraus gehandelt wird – aus dem intuitiven oder erlernten
Erkennen des Notwendigen. Dabei sollte niemand sich selbst aufgeben oder zurückstecken müssen, sondern
Situationen oder Rahmenbedingungen entstehen bzw. geschaffen werden, die allen etwas zu geben vermögen.
Was im Großen und Ganzen noch in der Zukunft liegt, lässt sich im Alltag gelegentlich schon erleben.
Die Stadt Wittenberg, welche im Jahr 2017 mit dem Reformationsjubiläum Luthers Thesenanschlag an die Tür der
Schlosskirche vor 500 Jahren feierte, befindet sich auf der Liste der sehenswerten Orte meines erwachsenen,
autistischen Sohnes Benjamin. Vor vier Jahren starteten wir einen ersten Versuch zur Erkundung der Stadt, der aber
aufgrund umfangreicher Restaurationsarbeiten im Vorfeld des Jubiläums scheiterte.
In diesem Sommer erwiesen sich die Besuchermengen als erträglich, was ich bei einem Arbeitstermin feststellen
konnte. Daraufhin schlug ich Benjamin recht kurzfristig einen Tagesausflug nach Wittenberg vor. Das Asisi-Panorama
„Luther 1517“ beeindruckte ihn wie erwartet, denn die Unmengen an Details, die es dort zu entdecken gibt, sind ein
Paradies für viele Autisten.
Im Lutherhaus, in dem Luther mehr als dreißig Jahre lang wohnte und wirkte und welches heute ein
reformationsgeschichtliches Museum beherbergt, hielten wir rasch die Tickets in den Händen. Eine moderate Anzahl
an Besuchern ermöglichte es Benjamin, die Exponate nahezu ungestört zu genießen, denn unvorhergesehene
Berührungen unterblieben und der Geräuschpegel war für ihn gut zu ertragen.
In den Gemächern Luthers allerdings befand sich eine Reisegruppe, die den zweiten Raum scheinbar komplett
ausfüllte. Es gab keinen Weg, der vorbeiführte, und die akustische Belastung war hier deutlich höher als in den
Räumen zuvor. Ich schlug Benjamin vor zu warten, jedoch ließ sich aus der anderen Richtung bereits das
Heranrollen einer weiteren Gruppe vernehmen, sodass ich mir nicht sicher war, ob die Zeit zum wenig gestörten
Passieren der Räume für uns ausreichen würde.
Benjamin äußerte, dass er das Museum verlassen möchte. Also kehrten wir um und suchten einen Weg nach
draußen. Leider waren sämtliche Seitenwege mit schwarzen Bändern, die von kleinen silbernen Säulen in
gewünschter Länge freigegeben wurden, abgesperrt, damit die Besucher einem vorgegebenen Rundgang folgen
können oder sollen. Somit gab es keinen Weg, der hinausführte, ohne eine dieser Absperrungen zu ignorieren, was
für Benjamin nicht infrage kam, denn aus seiner Sicht handelte es sich nicht um einen Notfall.
Ein Mitarbeiter hatte uns beobachtet und bot seine Hilfe an. Meinem Wunsch, das Museum zu verlassen, kam der
Mann nach, indem er eine Absperrung nach der anderen löste und wieder aufstellte. Während er uns nach draußen
führte, beobachtete er, dass Benjamin versuchte, im Vorbeigehen die Objekte des Museums zu erfassen. Er blieb
stehen und begann, die Schriftstücke in einer Vitrine zu erläutern. Dabei bemerkte der Erklärende sehr rasch, dass
Benjamin eigentlich nicht das Museum verlassen wollte, sondern dass offenbar zu viele Menschen in einem Raum für
ihn ein Problem darstellten. Ein solches Problem, dass er sogar bereit war, das Museum klaglos zu verlassen, um
dieser misslichen Lage auszuweichen. Der freundliche Mitarbeiter gab uns daraufhin eine ausgedehnte Privatführung
und jonglierte uns geschickt jeweils in die Räume, die gerade wenig besucht waren. Da Benjamin ein
Gesprächspartner ist, der viel Wissen und Wissensdurst mitbringt, war der geschichtsinteressierte
Museumsmitarbeiter in seinem Element, sodass beide (und auch ich) viel aus diesem Zusammentreffen
mitgenommen haben.
Und Benjamin ist auch ein Gesprächspartner, der mit seiner Art des Denkens und daraus folgend seiner Art, Dinge in
Worte zu fassen, Zuhörer in seinen Bann zu ziehen vermag. Einen Ablassbrief gigantischen Ausmaßes, der dem
stolzen Besitzer hundert Tage Fegefeuer zu ersparen vermochte, kommentierte er folgendermaßen: „Das ist dann
wohl der Ferrari unter den Ablassbriefen.“
Autismus war während des gesamten Gespräches kein Thema, denn der Mitarbeiter hatte intuitiv genau erfasst, was
Benjamin benötigt, und war unverzüglich auf seine Bedürfnisse (im Sinne von Notwendigkeiten) eingegangen. Das
sind Begebenheiten, die das Herz erwärmen.
Mit diesem Artikel möchte ich andere Menschen ermutigen, ebenso spontan und unbürokratisch zu handeln, wenn
Situationen es anbieten oder erfordern. Ich möchte Menschen mit Autismus und deren Angehörigen mit diesem
kleinen positiven Beispiel Mut und Kraft spenden. Und ich möchte mich bei dem mir unbekannten Mitarbeiter des
Lutherhauses in Wittenberg, der durch sein Handeln unseren Ausflug dorthin zu einem besonderen Erlebnis werden
ließ, ganz herzlich bedanken.
PS: Vor einer Veröffentlichung gebe ich meine Texte immer Benjamin zum Gegenlesen. Und wieder einmal bin ich
überrascht von seinem Kommentar: „Ich habe den ganzen Tag in Wittenberg nicht an meinen Autismus gedacht.“
Dieser Artikel erschien (leicht gekürzt) in autismus, Zeitschrift des Bundesverbandes autismus Deutschland e. V., Nr. 86 Dezember 2018.