„Ich habe die Kinder nur von außen
gesehen.“
© Inez Maus 2014–2024
Vor mehr als zehn Jahren trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Einiges hat sich seitdem verbessert,
vieles gibt es noch zu tun. Artikel 24 fordert ein integratives Bildungssystem, also das gemeinsame Lernen von
Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung.
Eltern eines behinderten Kindes bleibt somit seit Ratifizierung der UN-BRK die schmerzliche Erfahrung, ihren
Schulanfänger an der Regelschule des Einzugsgebietes anmelden zu müssen, um ihn sofort wieder abzumelden,
weil diese Schule wie fast alle anderen Regelschulen keine behinderten Kinder aufnimmt, erspart. Eltern eines
behinderten Kindes bleibt ebenso die Erfahrung erspart, das Verfahren eines Förderausschusses durchlaufen zu
müssen, um an dessen Ende eine Förderschule zugewiesen zu bekommen, ohne den geringsten Einfluss auf diese
Entscheidung zu haben. Und ihnen bleibt erspart, den Geschwistern erklären zu müssen (und es nicht so recht zu
können), warum der autistische Bruder nicht an der Grundschule lernen darf, sondern eine Schule für
Körperbehinderte besuchen muss, obwohl er keine Körperbehinderung hat.
Regelschulen können Schülern mit Behinderung den Zugang heute nicht mehr verweigern. Allerdings sind viele
Schulen damit überfordert, behinderte Schüler adäquat zu beschulen. Es mangelt an dafür ausgebildeten
Pädagogen, an Räumen, an Material … Gerade wenn es sich um Schüler mit nicht sichtbaren Behinderungen wie
Autismus handelt, kommt es immer noch viel zu häufig vor, dass Anpassung im Sinne von „sie/er solle sich mal ein
bisschen anstrengen/zusammenreißen/Mühe geben“ gefordert wird.
Gelingende Inklusion hängt meiner eigenen Erfahrung zufolge weniger von den äußeren Gegebenheiten, sondern im
Wesentlichen von dem Engagement und der Einstellung der beteiligten Pädagogen ab. So kann – wie im Fall von
Benjamin, meinem autistischen Sohn – die Beschulung an einem Förderzentrum in einer Klasse mit 7 Schülern und
zwei ständig anwesenden Pädagogen komplett misslingen. Die Beschulung an einer Regelschule mit 24 Schülern in
der Klasse, wechselnden Fachlehrern sowie Räumen und einer nur stundenweise anwesenden Schulhelferin verlief
dagegen erfolgreich – das war vor Inkrafttreten der UN-BRK. Aufgeschlossene, verständnisvolle und engagierte
Pädagogen sind der größte Segen für ein autistisches Kind – nicht nur für ein autistisches Kind, eigentlich für jedes
Kind, egal, ob mit oder ohne Behinderung. Die Rahmenbedingungen lassen sich dann meist so gestalten, dass die
Beschulung funktioniert. Der Umkehrschluss gilt nur insoweit, dass gute materielle und organisatorische Bedingungen
eine wesentliche Voraussetzung dafür sind, dass Erzieher und Lehrkräfte ihre pädagogischen Qualifikationen und ihre
Ideen zum Tragen bringen können. Da, wo es noch nicht so gut läuft, Ihnen pauschal mangelndes Engagement
vorzuwerfen, ist jedoch meist falsch und wenig hilfreich.
Als ich Benjamin beim Abholen nach seinem ersten Schultag in der Regelschule fragte: „Und, wie findest du deine
neue Klasse?“, antwortete er unverzüglich: „Ich weiß nicht. Ich habe die Kinder nur von außen gesehen.“ In sein
Gefühle-Tagebuch ließ mich Benjamin an diesem Tag schreiben, dass er „interessiert“ war „am Unterricht in der
neuen Schule“ und „zufrieden“, weil „du am Schulende gekommen bist“.