„Fugenmischungen für Menschen“
© Inez Maus 2014–2024
Irgendwann im Frühjahr vor ein paar Jahren stand Benjamin, mein autistischer Sohn, – wie so oft – plötzlich vor mir
und stellte mir ohne Einleitung überfallartig zwei Fragen. Er wollte Folgendes von mir wissen: „Hast du in deiner
Doktorarbeit auch abgeschrieben? Kann dir das jetzt auch passieren?“ Das, was mir „jetzt auch passieren“ könnte,
bezog sich auf die Aberkennung des Doktorgrades des ehemaligen Verteidigungsministers Karl Theodor zu
Guttenberg aufgrund von Plagiatsvorwürfen. Bevor ich antworten konnte, fügte Benjamin hinzu: „Das wäre aber
peinlich!“
Diese Episode ist mir wieder eingefallen, als mir ein Sonderpädagoge vor einigen Tagen eine ähnliche Begebenheit
erzählte. Zwei Kolleginnen leiteten eine Gruppe Schüler an, Mosaikarbeiten anzufertigen. Die Mosaiksteine waren
bereits aufgeklebt und eine der Pädagoginnen erklärte den Kindern, wie sie die Fugen zwischen den Steinen mit der
Fugenmischung füllen. In der Gruppe befand sich ein autistischer Junge und dieser stellte der Erklärenden folgende
Frage: „Gibt es Fugenmischungen für Menschen? Dann können Sie Ihre Fugen im Gesicht damit füllen.“
Die beiden Pädagoginnen reagierten empört und forderten den Jungen auf, sich zu entschuldigen. Der Junge wusste
nicht, weshalb er sich entschuldigen sollte, und fragte nach. Er erhielt als Antwort: „So was sagt man nicht.“ Er
verstand noch immer nicht, was er falsch gemacht haben soll. Da er erst weiterarbeiten durfte, wenn er sich
entschuldigt hatte, gab er schließlich ein „Entschuldigung“ von sich.
Autistinnen und Autisten haben Probleme damit, ungeschriebene soziale Regeln zu erfassen. Eine dieser
ungeschriebenen Regeln besagt, dass man Menschen nicht direkt oder indirekt mitteilt, dass sie alt sind oder alt
aussehen. Darüber zu schreiben, warum das in unserer Gesellschaft so ist, würde den Rahmen dieses Textes
sprengen. Viel wichtiger finde ich, die Reaktionen der Beteiligten näher zu beleuchten.
•
Der autistische Junge hat eine Beobachtung gemacht, diese sachlich korrekt wiedergegeben und eine
Lösungsmöglichkeit zum Beseitigen der „Fugen“ vorgeschlagen. Wofür soll er sich entschuldigen? Dafür,
dass seine Gesprächspartnerin offensichtlich mit ihrem Aussehen hadert?
•
Was ist eine Entschuldigung wert, wenn derjenige, der sie abgibt, dies unter Zwang tut und nicht versteht,
wieso sein Handeln als „falsch“ bewertet wird?
•
Der Junge hat keine negativen Äußerungen wie beispielsweise „Ich finde Ihre Falten hässlich“ oder „Ihr
Gesicht sieht aber schrecklich aus“ von sich gegeben. Dies wären (ab)wertende Äußerungen, für die eine
Entschuldigung tatsächlich angebracht ist.
•
Genau genommen hat der autistische Junge sogar ein Lob verdient. Vielen Autistinnen und Autisten fällt es
schwer, Gedanken oder Handlungen auf ähnliche oder auch gleiche wiederholte Anforderungen bzw.
Situationen zu übertragen. Dieser Junge hat die Methode des Schließens der Fugen zwischen den
Mosaiksteinchen in Gedanken auf das menschliche Gesicht übertragen.
Im sozialen Kompetenztraining sollen unter anderem Dinge wie ein Verständnis für und Wissen zu sozialen Regeln
vermittelt werden. Ich finde es dringend erforderlich, dass sich auch die andere Seite (also die vermittelnde) mehr in
diesen Prozess einbringt, dass sie mehr hinterfragt, was gefordert, gelehrt oder geübt wird. Dass mehr darauf
geachtet wird, dass ein beiderseitiges aufeinander Zugehen stattfindet, dass beide Seiten voneinander lernen, anstatt
dass Anpassung verlangt wird.
Eine ungeschriebene soziale Regel, die in einem solchen Training ebenfalls vermittelt wird, ist, dass man mit einem
Lächeln die Aufmerksamkeit, das Wohlwollen oder die Sympathie eines potenziellen Kontaktpartners gewinnen kann.
Autistinnen und Autisten haben jedoch Schwierigkeiten mit der Benutzung von Mimik und Gestik, sodass Benjamin
die Wirkung einer derartigen Maßnahme folgendermaßen zusammenfasst: „Wie muss der Wolf sich fühlen, wenn er
versucht zu lächeln und wegen seiner Reißzähne kritisiert wird.“*
An dieser Stelle kehre ich zur Eingangsepisode zurück. Um meinen Sohn zu beruhigen, begann ich ihm zu erklären,
dass ein Plagiat bei einer naturwissenschaftlichen Arbeit eigentlich nicht möglich ist, weil man dazu ja eigene
Messergebnisse aus Experimenten erbringen muss. Er unterbrach mich und meinte nachdenklich: „Oder bist du für
eine Überprüfung nicht wichtig genug?“
*Maus, I. (2017). Geschwister von Kindern mit Autismus. Stuttgart: Kohlhammer, S. 159.