Sind wir alle behindert?
© Inez Maus 2014–2024
Glaubt man dem Titel eines kürzlich erschienenen Kinderbuches, so lautet die Antwort: Ja!
Das Buch mit dem Titel „Alle behindert!“ (Klett-Kinderbuch, 2019) stellt „25 spannende und bekannte
Beeinträchtigungen in Wort und Bild“ vor und verspricht auf dem Cover sogar noch einen „Supertrumpf“.
Das Anliegen der Autoren – Kinder über Behinderungen aufzuklären und Berührungsängste sowie Hürden im
Miteinander abzubauen – ist in Zeiten der beginnenden Inklusion von Menschen mit Behinderungen sehr lobenswert.
Die Umsetzung verfehlt meiner Meinung nach allerdings ihr Ziel. Diese Ansicht wird von vielen Angehörigen
behinderter Kinder geteilt.
„Spannende und bekannte Beeinträchtigungen“, die im Buch vorgestellt werden, reichen von körperlichen
Behinderungen über schlechte Charaktereigenschaften bis hin zu Kindern von sogenannten Helikoptereltern.
Körperliche, geistige und seelische Behinderungen werden durch die Gleichstellung mit gesellschaftlichen
Problemen wie „dick“ und „Schlankheitswahn“ (abzugrenzen von Essstörungen) oder „überbehütetes Kind“
banalisiert. Wenn – wie im Buch praktiziert – beispielsweise Down-Syndrom und Angeber, Mitläufer und Stottern,
Tussi und Kleinwuchs gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden, entsteht Schaden auf beiden Seiten. Ein
Mädchen, welches sich einige Male seiner Mutter gegenüber zickig verhalten hat und nun das Buch liest, glaubt
dann vielleicht behindert zu sein. Da das Buch suggeriert, dass jeder „behindert“ ist, werden die Bedürfnisse der
wirklich behinderten Kinder nicht mehr gesehen. Weitergedacht schadet es somit eigentlich dem
Inklusionsgedanken, denn die gewollte Gleichmacherei hebt die Notwendigkeit der Inklusion auf.
Die Autoren schießen auch im Detail weit über ihr Ziel hinaus. Zum Beispiel wird die Frage „Wie oft kommt das vor“
für das Down-Syndrom mit „Immer seltener (leider!)“ beantwortet. Wie soll ein Erwachsener, der das Buch mit einem
Kind liest (Altersempfehlung des Verlages: ab 5 Jahren), diesem die Antwort erklären?
Die Tendenz, den Behinderungsbegriff nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu dehnen
und auszuweiten, ist allerdings schon längere Zeit zu beobachten.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Artikel 1 erklärt den Personenkreis, dessen Rechte dieses Übereinkommen konkretisieren soll, folgendermaßen: „Zu
den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder
Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen,
wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Beauftragte der Bundesregierung
für die Belange von Menschen mit Behinderungen: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Die amtliche, gemeinsame
Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein [sic], 2017, S. 8).
Inklusion ist dabei das Instrument, um Teilhabe als unveräußerliches Menschenrecht zu verwirklichen. In der Praxis
bedeutet Inklusion, dass Menschen mit Behinderungen sich nicht an Gegebenheiten oder Strukturen anpassen
müssen, um ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten, dass sie die Freiheit haben, eigene Entscheidungen zu
treffen, und dass sie angemessene Unterstützung erhalten, um ihre Ziele erreichen zu können.
Die GEW (Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft) dagegen deutet den Begriff Inklusion sehr umfassend: „Inklusion
bedeutet – abgeleitet vom lateinischen Begriff inclusio – Einschluss bzw. Einbeziehung. Aus soziologischer Sicht
beschreibt Inklusion die Gleichberechtigung und die Teilhabe aller Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen –
unabhängig von Geschlecht, kulturellen und sozialen Hintergründen, sexueller Orientierung, Weltanschauung,
Religion, Leistungsfähigkeit, Interessen etc. Die Vielfalt und die Verschiedenheit der Menschen stellen die Normalität
dar, es gibt keine fest stehenden Normen. Diskriminierungen und soziale Ausschlüsse stehen der Inklusion diametral
gegenüber“ (GEW Berlin: Berlin auf dem Weg zur inklusiven Schule, 2014, S. 4).
Als rechtliche Grundlage führt die GEW u. a. das Antidiskriminierungsgesetz an. Dies ist vollkommen richtig und
berechtigt und schließt Menschen mit Behinderung ein, wenn es darum geht, Bevorzugungen oder
Benachteiligungen aufgrund bestimmter Merkmale zu verhindern. Es ist allerdings kein Ersatz für die UN-BRK, die
exklusiv für Menschen mit Behinderungen Inklusion als Instrument, um Teilhabe zu verwirklichen, festgelegt hat und
fordert. In der oben zitierten Ausführung der GEW verbergen sich Menschen mit Behinderungen vermutlich hinter
dem Stichwort „Leistungsfähigkeit“ oder unter „etc.“, denn die Formulierung „unabhängig von Behinderung“ findet
sich dort nicht.
Das lateinische Wort inclusio bedeutet Einschließung oder Einsperrung. Der daraus abgeleitete Begriff Inklusion hat
in verschiedenen Fachgebieten unterschiedliche Bedeutungen:
o
Mathematik: Beziehung des Enthaltenseins (Mengenlehre),
o
Mineralogie: Einschluss von Fremdsubstanzen in Kristallen,
o
Pädagogik: gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in
Kindergärten und Regelschulen,
o
Soziologie: das Miteinbezogensein, gleichberechtigte Teilhabe an etwas.
Die Umdeutung des Begriffes Inklusion führt dann dazu, dass auf Veranstaltungen der GEW die Rede ist von
„Bildungsbehinderten“, „Religionsbehinderten“, „Herkunftsbehinderten“ – und dass ein eifriger Zwischenrufer fordert,
man solle doch die „Schwangerschaftsbehinderten“ nicht vergessen.
Zweifelsohne haben Schülerinnen und Schüler, die aus sozial schwachen Verhältnissen kommen, die eine andere
Hautfarbe aufweisen oder in deren Elternhaus eine nicht christliche Religion ausgeübt wird, (immer noch) einen
Nachteil in unserem Bildungssystem, ebenso wie schwangere Schülerinnen oder Auszubildende. Durch die
Ausweitung des Behindertenbegriffes – man könnte auch von einer Aushöhlung sprechen – kommt die
Unterstützung, die mittels der Inklusion zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geleistet werden soll, nicht
bei den Empfängern (oder Empfangsberechtigten laut UN-BRK) an. Es ist einfacher, eine soziale Ungerechtigkeit
abzumildern oder zu beseitigen als einen Schüler oder eine Schülerin mit Behinderung dauerhaft erfolgreich inklusiv
zu beschulen. Somit besteht die Gefahr, dass vermeintliche Inklusionsleistungen abgerechnet oder sogar gefeiert
werden, ohne dass sich die Lage für die Schüler und Schülerinnen mit Behinderung gebessert hat.
Eigentlich ist die begriffliche Klärung doch recht einfach: Die UN-BRK hat eindeutig festgelegt, welche Personen als
behindert bezeichnet werden (dürfen/sollen). Alle anderen, die aus irgendwelchen Gründen Ausgleiche oder Schutz
benötigen, sind Benachteiligte. Dazu zählen allerdings nicht der „Aufschneider“ oder die „Tussi“, es sei denn, sie
kommen aus einem sozial schwachen Umfeld oder haben asiatische Wurzeln …
Die Ausweitung des Behindertenbegriffes – und damit implizierend der Anspruch auf Hilfen oder Unterstützung –
ließe sich beliebig fortsetzen: Gibt es nicht auch noch die Geschwisterbehinderten oder die Einzelkindbehinderten?
Wenn wir „Alle behindert!“ wären, dann bräuchten wir keine UN-BRK und der Begriff der Inklusion könnte zu seinem
Schattendasein zurückkehrend im Fachbereich Mineralogie verbleiben.