„Was ist das?
© Inez Maus 2014–2024
Der Weg in die Sprache erwies sich für meinen autistischen Sohn Benjamin als mühselig und langwierig. Bis zu
seiner Einschulung war er kaum in der Lage, verbal zu kommunizieren. Allerdings versuchte er auch nicht, die
fehlende Sprache mit anderen Mitteln wie Gesten zu kompensieren.
Gelegentlich – im Abstand von mehreren Wochen – gab Benjamin einzelne, gut verständliche und zur Situation
passende Wörter von sich. Jedes Wort gebrauchte er dabei nur ein einziges Mal, dann schien er es vergessen zu
haben. Als er später sprechen lernte, erfuhren wir zu unserer Freude, dass all die Wörter, die er scheinbar vergessen
hatte, vorhanden waren.
Eine der wenigen Situationen, in denen es Benjamin gelang, sich verbal mitzuteilen, ereignete sich in einem
Beratungsgespräch mit einer Psychologin. Während die Fachperson mit uns sprach, stand Benjamin hinter unseren
Stühlen. Er hatte sich zur Wand gedreht. Plötzlich hörten wir einen deutlichen Satz, der nicht wie eine Frage betont
war: „Was ist das!“
An der Wand, der sich Benjamin zugewandt hatte, hing eine Gitarre, zu der er aufschaute. Voll aufgewühlter Freude
erklärten wir unserem Sohn, was dort an der Wand über seinem Kopf hing. Aufgewühlt war ich, weil ich jedes Mal,
wenn sich so etwas ereignete, glaubte, jetzt sei das sprichwörtliche Eis gebrochen und mein Sohn würde die Sprache
erobern. Es dauerte lange, bis ich damals einsah, dass es doch immer wieder nur Eintagsfliegen waren.
Die Psychologin beobachtete unser Verhalten als Eltern. Sie ließ uns ausreden, wartete geduldig, bis wir unsere
Aufmerksamkeit wieder ihr zuwendeten. Dann erklärte sie uns mit Nachdruck: „Sie dürfen Ihrem Sohn nicht
antworten, weil er dann sein Verhalten nicht ändern wird.“ Die Verhaltensänderung, die sie meinte, sollte darin
bestehen, dass sich Benjamin umdreht und dann dem potenziell Antwortenden in die Augen schaut. Wenn er dieses
Verhalten zeigt, hat er eine Antwort verdient.
Ich war unerfahren und sie war die Fachfrau. Also sagte ich nichts dazu, obwohl es mir unlogisch erschien. Warum
sollte ich eine Antwort nicht einfach geben dürfen, egal ob mein Sohn mich oder die ihn gerade faszinierende Gitarre
anschaut?
Zu Hause, einige Wochen später, als Benjamin erneut einen zaghaften Kommunikationsversuch startete, versuchte
ich die Hinweise der Psychologin anzuwenden. Das Ergebnis war ernüchternd. Benjamin entzog sich frustriert der
Situation und ich bereute zutiefst, dass ich diese Kommunikationsmöglichkeit verschenkt hatte. Fortan kommunizierte
ich mit meinem Sohn weiter so wie vor dem Gespräch mit der Psychologin: Wenn er einen Versuch wagte, nahm ich
die Einladung an – das Wo, Wie oder Warum spielte dabei keine Rolle, Hauptsache ein Austausch kam zustande.
Viel später erfuhr ich von meinem autistischen Sohn, dass wir mit dieser Art des Kommunizierens genau richtig lagen.
Er erklärte mir, als er mir in einem Gespräch den Rücken zudrehte: „Ich kann dich nicht hören, wenn ich dich sehen
muss.“*
In einem Online-Seminar vor einigen Tagen fiel mir genau dieses Erlebnis wieder ein. Als ich den Teilnehmenden
erklärte, wie die Kommunikation mit autistischen Kindern und Jugendlichen gut gestaltet werden kann, wurden zwei
eindrückliche Beispiele von den Teilnehmenden beigesteuert.
Eine Person erzählte, dass sie beim Autofahren mit einem autistischen Jungen ein sehr gutes Gespräch führen
konnte. Der Junge habe über vieles geredet, was er sonst nie thematisiert. Schnell war allen in der Runde klar,
warum dies so ist: Die Autofahrerin musste sich auf den Verkehr konzentrieren, sie konnte den Jungen nicht
anschauen, auch nicht anfassen und sie konnte auch keine Position ihm gegenüber einnehmen. Schon die
Aufzählung macht deutlich, wie viele Reize in dieser Situation wegfielen. Eine weitere Person berichtete sodann ein
ähnliches Erlebnis. Sie hatte ein sehr gutes Gespräch mit einem autistischen Jungen, als beide auf einer Bank saßen
und ein Fußballspiel verfolgten.
In diesem Sinne hoffe ich, dass das Interesse von autistischen Kindern an Kommunikation nicht durch Forderungen,
die ihrer Natur und ihren Besonderheiten zuwiderlaufen, abgetötet wird.
* Maus, I. (2017). Geschwister von Kindern mit Autismus. Stuttgart: Kohlhammer, S. 147.