„Sie haben Fragen?
Dann rufen Sie uns einfach an – wir beraten Sie gern.“
© Inez Maus 2014–2024
Diese freundliche Aufforderung findet sich häufig so oder ähnlich formuliert am Ende von Schreiben öffentlicher
Stellen. Obiger Satz stammt aus einem Brief der Krankenkasse an meinen volljährigen, autistischen Sohn. Wäre der
Brief an mich gerichtet, würde ich das Beratungsangebot wohlwollend zur Kenntnis nehmen und selbstverständlich
zum Telefon greifen, wenn sich Unklarheiten auftun.
Der Brief ist aber nicht an mich gerichtet, sondern an meinen Sohn, dem sich eine Menge Fragen bei dem Versuch,
die Behördensprache zu entschlüsseln, auftun. Und der (noch) nicht die Gabe besitzt, einfach anzurufen. Ein Anruf
unbekannter (oder auch bekannter) Personen ist eine unplanbare, unstrukturierte Situation, die viele Menschen mit
Autismus in erheblichen Stress versetzt – eine Anforderung, die banal erscheint, es aber für Menschen mit Autismus
oft nicht ist.
Einfach anrufen, sich einfach durchfragen, einfach den anderen Fahrstuhl benutzen, einfach ein Ticket kaufen … –
unsere Welt ist voll mit Dingen, die einfach sind. Wer entscheidet, was einfach ist und was nicht? Die Mehrheit, die
Menschen ohne Autismus entscheiden dies. Diese Mehrheit würde aber niemals zu einem blinden Menschen sagen,
er solle einfach die Augen aufmachen, sie würde ebenso einen Menschen im Rollstuhl nicht auffordern, er solle
einfach aufstehen und ein paar Schritte gehen.
Ein Stück Barrierefreiheit für Menschen mit Autismus ließe sich schon dadurch schaffen, dass alternative
Kommunikationsmöglichkeiten ganz selbstverständlich angeboten werden, damit kein Rechtfertigungszwang
entsteht, wenn Telefonieren keine Option ist. Der kleine Zusatz „oder schicken Sie uns eine Nachricht“ kann bereits
einen Weg öffnen, um Fragen zu klären, Informationen einzuholen und letztendlich persönliche Angelegenheiten
eigenverantwortlich zu regeln. Er kann auf diese Weise ein Stück Selbstständigkeit bewirken und somit das
Selbstvertrauen stärken. Dies funktioniert aber nur, wenn die anbietende Seite die angebotenen
Kommunikationsformen auch bedient, also beispielsweise eine E-Mail zeitnah beantwortet.
Ein Stück Barrierefreiheit entstünde ebenso, wenn das Wort einfach nicht mehr so pauschal und damit
unterschwellig auch wertend wie bisher verwendet wird, sondern einen individuelleren, bewussteren Einsatz erführe.
Was für einen oder für viele Menschen einfach ist, kann für andere eine nahezu unüberwindbare Hürde darstellen.
In einigen Lebensbereichen meines Sohnes funktioniert die Kommunikation per E-Mail bereits wunderbar,
beispielweise dann, wenn der Dozent auf dem elektronischen Weg die Bewerbung zu einem Praktikum wie folgt
beantwortet: „Wir können uns ja mal in der Mensa auf einen Kaffee treffen.“
Sich mal auf einen Kaffee in der Mensa treffen – dabei einen guten Eindruck hinterlassen und gescheite Dinge
sagen, um den begehrten Praktikumsplatz zu bekommen – das wäre Stoff für einen weiteren Artikel.
PS: Selbstverständlich ist der Krankenkasse die Diagnose meines Sohnes bekannt, dem Dozenten übrigens nicht.
Dieser Artikel erschien in autismus, Zeitschrift des Bundesverbandes autismus Deutschland e. V., Nr. 84 Dezember 2017.