Grillen in Botania
© Inez Maus 2014–2024
Vor drei Jahren habe ich durch Zufall herausgefunden, dass mein autistischer Sohn das Zirpen von Grillen als Pein
empfindet. Beim Betrachten eines Blutmondes stellte sich heraus, dass Benjamin die Grillen sogar aus vielfältigen
Umgebungsgeräuschen heraushört.
Dieses Erlebnis bzw. der Blogartikel darüber löste vielfältige Reaktionen aus – sowohl bei uns als auch bei meinen
Leserinnen und Lesern. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
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„Danke für das Zusenden des Erlebnisses - sooo eindrücklich, ein Beispiel zu haben wie gut das Gehör
Ihres Sohns ist … da kann ich mir ungefähr vorstellen, wie anstrengend einfach Alltagsgeräusche für ihn
sein können. […] Ich habe einen zauberhaften Tag in völliger Ruhe (abgesehen von dem Gewitter
nachts) verbracht. Na, wer weiß, was Ihr Sohn dort gehört hätte :-)“
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„Die zirpenden Grillen! Spannend. Ich habe einen spontanen Abendspaziergang gemacht.“
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„Nun habe ich eben den Bericht gelesen, der war ja wirklich spannend. Die Fragen waren faszinierend.
In Krimis ist oft das Zirpen von Grillen als Unheilankünder zu hören (übrigens auch die Pfauen-Schreie).
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„Ich danke für den Blog von heute Mittag. Der Blog war ja wie eine Geschichte aus Ihrem Buch. Das
Leben schreibt eben weiter. Jede Veränderung ist ein Problem, die eigenen Sorgen müssen
zurücktreten, um Lösungen zu finden, damit B. nicht die Nerven verliert.“
Lösungen fanden wir, indem fortan bei Außenaktivitäten auf mögliche Begegnungen zirpender Wald- und
Wiesenbewohner geachtet wurde und geeignete Ablenkungsmanöver vorher durchdacht wurden. Nach dem
Erscheinen des Artikels wurde ich des Öfteren gefragt, warum wir diese Besonderheit unseres Sohnes nicht früher
entdeckt haben.
Die Antwort auf diese Frage ist simpel: weil Benjamin nicht darüber berichtet hatte. Um festzustellen, dass man
anders wahrnimmt als die Mehrheit der Menschen, muss man wissen, wie diese Mehrheit wahrnimmt, oder man
muss verinnerlicht haben, dass prinzipiell die Möglichkeit besteht, anders wahrzunehmen. Wer nicht weiß oder nicht
ahnt, dass andere Menschen anders wahrnehmen, der redet auch nicht über seine Wahrnehmungen.
Benjamin weiß inzwischen ziemlich gut über seine Wahrnehmungsbesonderheiten Bescheid und hat gelernt, damit
umzugehen. Das führt auch dazu, dass er uns oft Dinge aus seinem Erleben berichtet.
Vor einigen Tagen besuchten wir Botania 2021, die Botanische Nacht im Botanischen Garten Berlin. Dieser Abend
bescherte uns nicht nur die erste Großveranstaltung nach beinahe zwei Jahren, eine pathetische Rede der
Bezirksbürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf und viele unvergessliche Erlebnisse, sondern auch eine neue
Erkenntnis zum Thema Grillen. Ziemlich unvermittelt blieb Benjamin an einer Stelle des Parkes stehen und erklärte:
„Die Grillen hier erzeugen viel weniger Pein. Sie sind besser auszuhalten.“
Lieblich zirpende Grillen spielten mehrfach eine Rolle in den Geschichten, die ich für meine Kinder geschrieben
hatte, um ihnen das Thema Autismus näherzubringen. Damals wusste ich noch nicht, welche Empfindungen die
Geräusche bei Benjamin auslösen. Somit vermutete ich, dass Grillen keine negativen Assoziationen bei meinem
oftmals durch verschiedene Geräusche gestressten Sohn auslösen.
Einige der eben erwähnten Geschichten finden sich in meinem neuen Buch, welches den Titel „Geschichten für
Kinder über Autismus“ trägt und zum Jahresende erscheint. Wie Benjamin die zirpende Grille in einer der
Geschichten als Kind empfunden hatte und warum er der Meinung war, dass die Grille von mir an der
entsprechenden Stelle völlig plausibel eingesetzt wurde, können Sie, liebe Leserinnen und Leser, im neuen Buch
erfahren.
Neben Grillen gibt es noch andere Insekten wie Heuschrecken und Zikaden, die ähnliche Geräusche produzieren.
Es ist also durchaus möglich, dass uns dieses Thema weiterhin auf vielfältige Weise beschäftigt.