Geschichten für Kinder über Autismus
© Inez Maus 2014–2024
Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain vertrat die Meinung: „Schreiben ist leicht. Man muß nur die falschen
Wörter weglassen.“ Sicherlich meinte er damit nicht nur das Schreiben von Romanen, sondern auch von
Geschichten.
Ein anderer Grund dafür, „die falschen Wörter“ wegzulassen, kann darin bestehen, dass diese Wörter von
bestimmten Rezipienten wie beispielsweise autistischen Kindern nicht verstanden werden. Solche Wörter können
klassische Füllwörter sein oder ungenaue Angaben, aber auch Ansammlungen von bestimmten Wörtern, die sich
dann Redewendung oder Ironie nennen.
Autistische Kinder tun sich schwer mit dem Annehmen von Geschichten, wenn diese ihren Interessen nicht
entsprechen und ihre besondere Art der Wahrnehmung und des Denkens nicht berücksichtigen. Sie benötigen
Geschichten, in denen sie sich wiederfinden können und deren Helden sie auf ihren Abenteuern begleiten können.
Genau solche Geschichten habe ich für Benjamin, meinen autistischen Sohn, über mehrere Jahre hinweg
geschrieben.
Über das Schreiben haben sich viele Schriftsteller geäußert. George Orwell nannte verschiedene Gründe für das
Verfassen von Texten: „Ich schreibe, weil es eine Lüge gibt, die ich aufdecken will, eine Tatsache, auf die ich
Aufmerksamkeit lenken will, und mein wichtigstes Anliegen ist es, Gehör zu finden.“
Auch mein wichtigstes Anliegen für das Schreiben von Geschichten war es, Gehör zu finden – und zwar nicht nur bei
meinem autistischen Sohn, sondern auch bei seinen Geschwistern, damit das gemeinsame Vorlesen von
Geschichten in unserer Familie keine Illusion bleibt. Eine Leserin meiner vorherigen Bücher stellt sich das dann so
vor: „dass du Geschichten erfunden hast, um deinen Kindern das begreiflich zu machen, was sie miteinander
erleben!“
So entstanden viele Geschichten, die alltägliche Erlebnisse mit Autismus thematisieren und die sowohl autistische als
auch nicht-autistische Kinder ansprechen. Die Protagonisten der Geschichten führen in ihrer jeweiligen Welt vor, wie
das Zusammenleben funktionieren kann. Sie zeigen beispielsweise, wie Flavia, die Maus mit den besonderen
Bedürfnissen, an einer Geburtstagsfeier teilnehmen kann oder wie Hugo, der ängstliche Fisch, eine Schulaufgabe
meistert.
Ein Teil dieser Geschichten findet sich nun in einem Buch versammelt, welches im Kohlhammer-Verlag erschienen
ist. Mein Buch „Geschichten für Kinder über Autismus“ enthält neben den Geschichten für Kinder im späten
Kindergartenalter und im Grundschulalter auch einen Teil für die erwachsenen Bezugspersonen. An dieser Stelle
möchte ich dem Kohlhammer-Verlag danken, dass dieses recht ungewöhnliche Projekt nicht in meiner Fantasie
gefangen bleiben musste, sondern zu einem Buch werden konnte.
Die Geschichten wurden von Katharina Reichert-Scarborough liebevoll illustriert. Für mich waren es berührende
Erlebnisse, zu sehen, wie die Figuren der Geschichten somit auf eine andere Art zum Leben erwacht sind. Zu allen
Illustrationen befinden sich im Anhang des Buches Ausmalbilder als Kopiervorlage.
Der Erwachsenenteil des Buches richtet sich sowohl an professionelle Bezugspersonen als auch an Angehörige. Er
liefert das Hintergrundwissen zum Gebrauch des Geschichtenbuches und eine Vielzahl an Ideen für Spiele und
Aktivitäten, die sich aus den Geschichten ergeben oder ableiten lassen.
Die Ideen für Spiele und Aktivitäten im Buch enthalten auch zahlreiche Bastelvorschläge, die gemeinsam mit
autistischen und nicht-autistischen Kindern in verschiedenen Gruppenkonstellationen wie Familie,
Kindergartengruppe oder Hort- und Freizeitgruppen durchgeführt werden können. Eine Idee, die nicht im Buch zu
finden ist, möchte ich an dieser Stelle freilassen: Die Ausmalbilder eignen sich sehr gut, um einen immerwährenden
Kalender damit zu gestalten. Dazu werden lediglich ein Blanko-Kalender aus dem Bastelbedarf, Papier zum
Bedrucken, Klebstoff und natürlich geeignete Farbstifte benötigt. Durch die farbliche Gestaltung sowie die individuelle
Auswahl und Reihenfolge der Bilder entstehen sehr persönliche Werke.
Eine weitere Person, die sich über das Schreiben äußerte und die mit Sicherheit die Kunst beherrschte, „die falschen
Wörter“ wegzulassen, war Joseph Pulitzer. Für Autoren hielt er folgenden Rat bereit: „Schreibe kurz – und sie werden
es lesen. Schreibe klar – und sie werden es verstehen. Schreibe bildhaft – und sie werden es im Gedächtnis
behalten.“ Pulitzer war Journalist und diese Tatsache erklärt sicherlich seine konkreten Hinweise. „Klar und bildhaft“
sind aber ebenso Anforderungen, die Geschichten für autistische Kinder erfüllen müssen. Meine Geschichten wurden
nicht nur von meinen Kindern vor einigen Jahren ausgiebig getestet, sondern zusätzlich jetzt vor der Publikation von
Benjamin geprüft, ob sie „klar und bildhaft“ sind.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Spaß beim Lesen des Buches und wundervolle Erlebnisse mit
den Kindern, denen Sie die Geschichten vorlesen. Und ich hoffe, die Vorhersage der oben bereits zitierten Leserin
geht in Erfüllung. Sie schreibt: „Ich […] sehe jetzt schon die segensreiche Wirkung auf alle Kinder (und Eltern), die
sich irgendwann einmal anders als alle anderen fühlen.“