Crip Time
© Inez Maus 2014–2024
Das Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt a. M. präsentierte von September 2021 bis zum Januar 2022 eine
Ausstellung, welche den Titel „Crip Time“ trägt. Die Ausstellung zeigte Werke von Menschen, die eine Behinderung
oder chronische Erkrankung haben.
Im Booklet zur Ausstellung ist das Ziel dieser Präsentation folgendermaßen beschrieben: „Es gilt, die Verletzlichkeit
unserer Körper als etwas uns Konstituierendes zu begreifen. Denn erst unsere Verletzlichkeit macht uns zu sensiblen,
wahrnehmenden und verschiedenen Menschen.“
Mich interessierte diese Ausstellung aus zwei Gründen: Zum einen engagierte ich mich einige Jahre lang maßgeblich
in einem Kunstprojekt für autistische Menschen, zum anderen habe ich einen sich künstlerisch betätigenden
autistischen Sohn. Immer wieder standen und stehen bei uns somit Fragen im Raum wie die, was Kunst eigentlich ist,
oder ob alles, was ein Mensch mit Behinderung erschafft, gleichzeitig Kunst ist. Fragen, die sich nur schwer
beantworten lassen, ebenso wie die Frage nach den Zielen, die mit der Kunst verfolgt werden.
Die Objekte der Ausstellung „Crip Time“ vermitteln in einer großen Bandbreite, was es bedeutet, in bestimmten
Bereichen eingeschränkt zu sein. So demonstriert beispielsweise Christine Sun Kim mit ihrer Bildserie „Degrees of
Deaf Rage“ die Nuancen der Alltagswut. Die Wut, die anschaulich mittels Tortendiagrammen vermittelt wird, bezieht
sich aber nicht auf die Taubheit an sich, sondern auf eine von Hörenden dominierte Welt, die immer noch für
mangelnde Teilhabe von auf diesem Gebiet beeinträchtigten Menschen sorgt.
Jesse Darlings Werk „Epistemologies (Part of a series)“ ist ein Arrangement, welches mich zugleich berührt und
aufgewühlt hat. Es könnte eine Szene aus einem unaufgeräumten Büro sein – ein Haufen Aktenordner, der sich in
einer Ecke des Zimmers befindet. Erst bei genauerem Hinschauen bemerkt man, dass diese Aktenordner nicht mit
Blättern, sondern mit Betonplatten gefüllt sind. Betonplatten, die den Kampf mit Behörden, Ämtern, Ärzten des
chronisch kranken und halbseitig gelähmten Künstlers symbolisieren. Dieses Kunstwerk zeigt zwei Parallelen zu
meinem eigenen Erleben und zu den Erfahrungen anderer Eltern autistischer Kinder. Zum einen sind uns allen
bedrückend schwere Aktenordner sehr vertraut, zum anderen haben die Ordner mit Betonplatten eine Gemeinsamkeit
mit Autismus, den man den entsprechenden Personen auch nicht auf den ersten Blick ansieht.
Das MMK hat sich große Mühe gegeben, die Ausstellung barrierefrei zu gestalten. So gab es beispielsweise
Audioguides und ein Booklet in Leichter Sprache. Eine Personengruppe, die bei der Barrierefreiheit noch immer nicht
in ausreichendem Maße beachtet wird, sind autistische Menschen, obwohl sie nahezu ein Prozent der Bevölkerung
ausmachen. Die Ausstellungsräume des MMK sind zwar großzügig gestaltet und bieten genug Möglichkeiten für einen
kurzfristigen Rückzug, aber die akustische Belastung war an mehreren Stellen für autistische Menschen wie meinen
Sohn eindeutig zu hoch.
Somit war die Arbeit „For the 12 disabled people in Lebenshilfehaus (Area of Refuge)“ von Chloe Pascal Crawford, die
damit mangelnde Barrierefreiheit durch Treppenstufen thematisiert, für autistische Menschen nur schwer zu ergründen
oder auch zu erleben, da sich hier die akustischen Reize zweier anderer Werke überlagerten. Ihr Werk widmete die
Künstlerin den zwölf Bewohnern und Bewohnerinnen des Lebenshilfe-Hauses in Sinzig, die im Juli 2021 beim
Hochwasser im Landkreis Ahrweiler ums Leben kamen.
Zu hören war am und im Raum, der Crawfords Kunstwerk ausmacht, einerseits eine Stimme aus dem Off, die das
Video „hand model“ von Michelle Miles preisgibt. Im Video, das die Kontaktaufnahme der im Rollstuhl sitzenden
Künstlerin mit einer Modelagentur verarbeitet, äußert eine Agentin auf Englisch: „Ich kann Sie nicht gebrauchen“ – ein
Satz, der sich schnell im Gehirn festkrallt. Andererseits war das Gedröhn von Pumpen zu vernehmen. Diese Pumpen
ermöglichen, dass sich die Skulpturen „Haecceidad“ von Berenice Olmedo rhythmisch aufrichten und wieder
erschlaffen. Die Skulpturen bestehen aus pneumatischen Schienen und verkörpern Lebendigkeit, obwohl sie mit ihren
Bewegungen nicht zu einer Einheit, zu einem Körper verschmelzen können. Ob das Geräusch der Pumpen Teil des
Kunstwerkes ist oder technikbedingt unvermeidbar war, konnte ich nicht herausfinden.
Autistische Menschen, die Reize oft ungefiltert wahrnehmen, haben somit kaum eine Möglichkeit, den Begleittext zu
lesen oder Crawfords mit blauen Wellen gefülltem Raum auf sich wirken zu lassen. Orte, an denen sich akustische
Reize überlagern, gab es in der Ausstellung mehrere. Für Menschen, die Reize schlecht oder gar nicht ausblenden
können, ist der Kunstgenuss (Darf man bei solch einer Ausstellung eigentlich von Kunstgenuss sprechen?) somit
erheblich eingeschränkt. In späteren Ausstellungen ist eine akustische Entzerrung daher wünschenswert.
Ein Ausstellungsbesuch in Pandemie-Zeiten ist geprägt vom Maskentragen und Abstandhalten – nicht gerade
förderliche Umstände, um sich mit anderen Besuchern auszutauschen. Ein paar Gespräche kamen trotzdem
zustande. So erzählte mir zum Beispiel ein pensionierter Lehrer, dass er die Ausstellung besucht habe, weil er früher
einen Schüler mit Körperbehinderung unterrichtet hatte. Oft habe er sich gefragt, wie er die Werke dieses Schülers im
Kunstunterricht bewerten soll oder darf. Eine Antwort darauf fand er in der Ausstellung nicht, dafür aber „viel
Erleuchtung und Einblicke in die Lebenswelten der Künstler“.
Die Einblicke in die Lebenswelten der Künstler erhält man als Besucher meist erst dann, wenn man die biografischen
Daten im Booklet nachliest. Die Ausstellung „Crip Time“ macht nachdenklich, klärt auf, polarisiert, erschüttert, berührt,
beeindruckt, verbindet und trennt – von allem ein bisschen und das sorgte für eine ganz besondere Gefühlsmischung,
mit der ich letztendlich das Gebäude wieder verließ. Bleibt zu wünschen, dass sie in weiteren Städten gezeigt wird.
Kunst erfüllt viele Funktionen – Unterhaltung, Aufklärung, der Hinweis auf Missstände, das Schaffen von
Begegnungsräumen, um nur einige zu nennen. In der Regel befriedigt ein einzelner Künstler oder eine thematisch
ausgerichtete Ausstellung nicht nur ein, sondern mehrere Bedürfnisse ihrer Rezipienten.
Mein autistischer Sohn beschreibt in einer Selbstreflexion seine Ambitionen für das Schreiben von Geschichten
folgendermaßen: „Ich will nicht davor schrecken, auch moralisch zweifelhafte Elemente in meine Geschichten
einzubauen, denn Geschichten dienen nicht nur der Unterhaltung und der Lehre, sondern auch dem Ausloten der
menschlichen Abgründe. Tatsächlich würde ich sogar behaupten, dass die Kunst allgemein die sicherste Möglichkeit
ist, dies zu tun. Ein Spielplatz ohne Unfallgefahr, auf dem wir auch mit Werten und Ansichten spielen können, die
moralisch abscheulich oder zumindest problematisch sind.“
Chloe Pascal Crawford, For the 12 disabled people in
Lebenshilfehaus (Area of refuge), 2021
Ausstellungsansicht MUSEUM MMK
Foto: Inez Maus 2022