Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 20. März 2022
Allein unter Menschen
© Inez Maus 2014–2024
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Heute ist Weltgeschichtentag (World Storytelling Day). Dieser Tag wurde 2004 von schwedischen Künstlern ins Leben gerufen, um durch das Erzählen von Geschichten und durch das Zuhören eine Verbundenheit zwischen den Beteiligten herzustellen. Der Geschichtentag geht auf den seit Anfang der 1990er-Jahre in Schweden existierenden nationalen Erzählertag (Alla berattares dag) zurück. Anlässlich des Weltgeschichtenages veröffentliche ich eine Geschichte meines autistischen Sohnes. Ich hoffe, dass diese Geschichte nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern ganz in der Tradition des Geschichtentages zum Nacherzählen oder Weitererzählen motiviert. Das diesjährige Motto des Weltgeschichtentages lautet: Verloren und gefunden! Was könnte Zero, der Protagonist der Geschichte, verloren, was gefunden haben? „Ach du heilige Scheiße! Du hast einen Atomreaktor?! So was hat doch sonst niemand! Wo hast du den denn herbekommen?!“ Der Mutant war sich nicht sicher, ob Ashley wirklich versuchte, eine Konversation aus dem Inneren des Raumschiffes heraus bis zu ihm nach draußen zu führen, oder ob sie immer laut mit sich selbst sprach, wenn sie arbeitete. Generell war ihm diese Frau wegen ihres freundlichen Verhaltens in der Bar nicht geheuer. Alle Menschen, mit denen Zero bisher zu tun gehabt hatte, versuchten immer mehr oder weniger unauffällig Abstand zu halten. Und vermieden stets eine Berührung. Der Mutant dachte sich schon beim Beginn seiner Reise, dass man ihn nicht besonders freundlich behandeln würde. Dass man mit ihm aber teilweise wie mit einem Aussätzigen umgehen würde, übertraf seine Befürchtungen. Eigentlich wurde das Verhalten der Menschen durch eine Mixtur aus drei Bestandteilen bestimmt: Ehrfurcht vor seiner gepanzerten Gestalt, Angst vor seiner Fremdheit und Hass auf sein Anderssein. Die Angst war immer vorhanden, nicht nur, weil er ein Mutant war. Er gehörte zudem einer Art von Mutanten an, die in ihrer eigenen geschlossenen Gesellschaft auf einem Bruchstück, das die Überreste der ehemaligen deutschen Hauptstadt Berlin trug, lebten. Nichtmutanten und anderen Mutanten war es nicht gestattet, das Bruchstück zu betreten, weshalb die Bewohner außerhalb von Berlin so gut wie nichts über die gepanzerten Schmetterlingsmutanten wussten. Durch dieses Nichtwissen wurde Zero nicht nur von den Menschen noch misstrauischer beäugt als normalerweise, auch die Angehörigen anderer Mutantenarten, die ebenfalls unter der Mutantenfeindlichkeit der Menschen litten, trauten ihm nicht so recht über den Weg. Glücklicherweise war wenigstens die Ehrfurcht fast immer größer als der Hass. Sobald die Menschen merkten, dass er ihnen nichts tun wollte, ignorierten sie ihn oder waren zumindest bereit, mit ihm zu handeln, was wohl daran lag, dass Angehörige seines Volkes als reich galten. Bei ihm stimmte dieses Klischee zwar nicht, seine finanziellen Mittel waren sogar sehr begrenzt, trotzdem profitierte er davon, da jeder Händler ihm bereitwillig seine Ware zeigte, ungeachtet seines Aussehens. Und ernsthaften Ärger mit Rassisten hatte er bisher auch nicht erlebt, abgesehen von dem einen Vorfall mit dem Betrunkenen. Als er von Berlin aus aufgebrochen und auf einem kleinen Bruchstück im süddeutschen Raum, wo die Menschen vom landwirtschaftlichen Anbau lebten, zwischengelandet war, wurde er in den späten Abendstunden, nachdem er seine Besorgungen erledigt hatte, von einem betrunkenen Bauern angepöbelt. Schnell hatte sich eine Menge aus zum Teil ebenfalls schon angetrunkenen Menschen um die beiden gebildet und belustigt zugesehen, wie der Mutant von dem Betrunkenen mit Schimpfwörtern überschüttet wurde. Zero wendete eine einfache Taktik an: aussitzen. Natürlich waren die Beleidigungen verletzend und kränkten ihn in seinem Ehrgefühl, jedoch wusste er, dass jede Reaktion seinerseits alles nur verschlimmern würde. Alles, was nicht körperlich wehtat, einfach hinnehmen – das war seine Regel, die er sich für diese Reise aufgestellt hatte, denn er war allein in der großen Fremde. Jedenfalls sah er den Betrunkenen nur stumm mit kalten Augen an und wartete darauf, dass diesem die Lust verging. Tatsächlich aber wurde der Beschimpfende immer aggressiver, da der Mutant überhaupt nicht auf seine Beleidigungen reagierte. Schlussendlich riss dem Betrunkenen der Geduldsfaden und er schlug Zero mit voller Wucht in die Brust. Unglücklicherweise war der Schuppenpanzer des Mutanten so hart wie Stahl. Der Mutant erinnerte sich noch gut an das mehrstimmige Knacken, als die Handknochen des Betrunkenen das Wer-ist-härter?-Duell gegen seine Schuppen verloren. Der Mann rannte heulend und seine Hand haltend davon und die Menge löste sich lachend auf, ohne sich weiter um den Mutanten zu scheren. Auch wenn dieser Vorfall für Zero gut ausgegangen war, so hatte er gezeigt, dass Mutanten bei den Menschen nicht gern gesehen wurden. Zwar hielten sich die meisten zurück, doch letztendlich dachten alle das, was der Bauer, vom Alkohol enthemmt, gesagt hatte.