Gipfelstürmer auf Augenhöhe
© Inez Maus 2014–2024
Vor ein paar Tagen wurde mir in einer Diskussionsrunde sprichwörtlich ans Herz gelegt, meine Website
umzubenennen. Der Grund: Der Name meiner Website sei behindertenfeindlich.
Zuerst überlegte ich, ob die zwei Personen, die dies ansprachen, sich in der Person und damit in der Website geirrt
hatten. Nein, hatten sie nicht.
Mir den bisherigen Verlauf der Ausführungen zum Thema Behindertenfeindlichkeit ins Gedächtnis rufend, ahnte ich
dann, worauf die Diskussion hinauslaufen sollte. Die Veranstaltung thematisierte die Benutzung von Alltagssprache mit
versteckten oder unbewussten behindertenfeindlichen Äußerungen.
Die Liste der beanstandeten Wörter ist lang und reicht von Augenöffner bis Gipfelstürmer. Das Wort Augenöffner wird
beispielsweise kritisiert, weil es blinde oder stark sehbeeinträchtigte Menschen gibt, die durch bloßes Sehen keine
fundamentalen Erkenntnisse erlangen können. Der gleichen Logik folgt die Kritik am Wort Gipfelstürmer – es gibt
Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die keine Gipfel erstürmen können. Menschen auf Augenhöhe
begegnen zu wollen, wird ebenfalls für blinde und sehbeeinträchtigte Personen als nicht umsetzbar angesehen, da sie
nicht sehen können, in welcher Höhe sich die Augen des Gegenübers befinden.
Diese bloße Konzentration auf das Wort als solches ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen wird die
vorwiegende oder ausschließliche Benutzung der Wörter in einem übertragenen Sinne eingeschränkt oder nicht
gesehen, was eine sprachliche Verarmung zur Folge hätte. Zum anderen werden behinderten Menschen durch diese
Art der sprachlichen Reduzierung Fähigkeiten abgesprochen. Haben blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen etwa
keine fundamentalen Erkenntnisse? Können Menschen mit körperlichen oder auch anderweitigen Beeinträchtigungen
keine Gipfel der Erkenntnis erstürmen? Hat Stevie Wonder mit seinem Engagement in der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung niemandem die Augen geöffnet? War Stephen Hawking kein Gipfelstürmer?
Ich weiß nicht, wie die Meinung behinderter Menschen zur Benutzung solcher Wörter mit einer Bedeutung im
übertragenen Sinne ist, denn in der erwähnten Diskussionsrunde wurden dazu keine behinderten Menschen befragt.
Mein autistischer Sohn würde eine Nichtbenutzung der hier beispielhaft erwähnten Wörter in dem Sinne, wie wir sie
heute in der Alltagssprache benutzen, bedauern und als Verlust betrachten. Und dies, obwohl er als Autist gerade mit
Wörtern, die eine über den bloßen Wortlaut hinausgehende Bedeutung haben, Schwierigkeiten hat und diese
Bedeutungen sich oft kognitiv erschließen und erlernen muss.
So betrachtet wäre es autistenfreundlich, wenn Wörter wie Augenöffner und Gipfelstürmer nur noch in ihrem
puristischen Sinn verwendet würden, obwohl nicht einmal alle Autistinnen und Autisten dies gut finden würden. Dabei
stellt sich aber auch die Frage, wer oder was denn ein Augenöffner ist, wenn der übertragene Sinn des Wortes
wegfällt. Ein ophthalmologisches Gerät?
Anguckallergie – der Name meiner Website – sei nach Meinung oben erwähnter Aktivisten behindertenfeindlich, weil
es eben Menschen gibt, die andere nicht angucken können. Diese Personen würde ich mit diesem Namen
ausschließen. Gemeint sind auch hier Menschen, die blind oder stark sehbeeinträchtigt sind. Probleme mit dem
Blickkontakt, die bei Autismus sehr häufig vorkommen, und die mit dieser Formulierung treffend erfasst werden, waren
den Kritikern nicht bekannt.
Der Name meiner Website stammt übrigens von meinem autistischen Sohn. Bereits als Grundschüler vermittelte mir
mein jahrelang nonverbaler Sohn auf eine sehr eindringliche Art und Weise, dass er einen wesentlichen Punkt seiner
Schwierigkeiten selbst erkannt hatte. Damals baute er sich eines Tages aus heiterem Himmel vor mir auf und erklärte
mir scheinbar völlig aus der Luft gegriffen: „Mami, ich habe eine Anguckallergie.“ Seinerzeit war ich so überrascht,
dass ich nichts erwidern konnte, und als ich glaubte, eine geeignete Antwort gefunden zu haben, war mein Sohn
bereits wieder in seine neue LEGO-Zeitung vertieft gewesen.