Stichpunktzettel
© Inez Maus 2014–2024
Autistische Schüler und Schülerinnen lernen aufgrund ihrer ausgeprägten Detailwahrnehmung, ihrer logischen und
faktenorientierten Denkweise und ihres weniger ausgeprägten Verständnisses für soziale Themen anders als nicht-
autistische Lernende. Sie haben oft Schwierigkeiten in der Schule, die dadurch entstehen, dass die dort
vermittelten Lern- und Arbeitsmethoden ihren speziellen Bedürfnissen nicht entsprechen oder diesen nicht
angepasst sind. Dieser Tatsache wird bisher im Schulsystem kaum Rechnung getragen. Daran können auch gut
etablierte Nachteilsausgleiche nichts ändern. Autistische Schülerinnen und Schüler benötigen dringend ein Angebot
an alternativen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Lernstrategien.
Aufgrund von zahlreichen Nachfragen werde ich in den kommenden Monaten in loser Folge einzelne, spezielle
Themen des Lernens betrachten. Der erste Beitrag widmet sich dem Anfertigen eines Stichpunktzettels.
Ein Stichpunktzettel, auch als Stichwortzettel oder Stichwortmanuskript bezeichnet, soll eine Gedankenstütze
bilden, um einen Vortrag möglichst frei halten zu können, ohne sich dabei zu verhaspeln oder wichtige Daten zu
vergessen.
Meist lernen Kinder bereits im Grundschulalter, wie man einen Stichpunktzettel anlegt und danach auch benutzt.
Auf einem solchen Zettel sollen wichtige Daten und Fakten sowie schwierige Begriffe notiert werden. Diese
Methode basiert auf der Annahme, dass Daten und Fakten schwer zu merken sind. Bei einem längeren Vortrag
wird das Anfertigen mehrerer Stichpunktzettel empfohlen und die Struktur des Vortrags sollte ebenfalls einen Platz
bei dem Notierten haben. So wird es bereits Grundschülern beigebracht und mit ihnen eingeübt.
Ein Stichpunktzettel könnte beispielsweise folgendermaßen aussehen:
Stichpunktzettel 1
•
langgestreckte Bucht, Finnland + Estland, West -> Ost, Russland
•
400 km lang, Breite 50 km – 130 km
•
30.000 km²
•
Tiefe 38 m, max. 115 m
•
Wassermenge 1100 km³, Ladogasee
•
Brackwasser, wasserreiche Flüsse, dänische Meerengen, kaum Wasseraustausch
•
Weißmeer-Ostsee-Kanal -> Weißen Meer
•
Tallinn (Estland), Helsinki (Finnland), Ust-Luga + Sankt Petersburg (Russland)
Der diesem symbolischen Stichpunktzettel zugrunde liegende Text über den Finnischen Meerbusen lautet
folgendermaßen:
„Der Finnische Meerbusen […] ist eine langgestreckte Bucht der Ostsee, die sich zwischen Finnland und Estland in
west-östlicher Richtung auf Russland zu erstreckt. Die Bucht ist […] etwa 400 km lang, ihre Breite beträgt zwischen
50 km und 130 km. Ihre Fläche beträgt etwa 30.000 km². Die durchschnittliche Tiefe beträgt 38 m und die maximale
Tiefe 115 m, womit die gesamte Wassermenge nur etwa 1100 km³ beträgt, was kaum mehr als die des Ladogasees
ist.
In der Bucht befindet sich vor allem Brackwasser, da mehrere wasserreiche Flüsse in sie münden und die
Verbindung zum Ozean über die Ostsee und die dänischen Meerengen […] kaum Wasseraustausch zulässt. Durch
den Weißmeer-Ostsee-Kanal gibt es eine schiffbare Verbindung zum Weißen Meer. Die wichtigsten Städte und
Häfen am Finnischen Meerbusen sind Tallinn in Estland, Helsinki in Finnland und Ust-Luga sowie Sankt Petersburg
in Russland.“ Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Finnischer_Meerbusen (Zugriff am 24.03.2019)
Beim obigen Stichpunktzettel wurde alles richtig gemacht – er ist regelkonform angelegt worden. Trotzdem kann ein
autistisches Kind, das in der Grundschule diesen kleinen Vortrag mithilfe dieses Stichpunktzettels halten soll,
jämmerlich versagen. Es schaut möglicherwiese auf diesen brillant angefertigten Zettel und kann keinen einzigen
Satz um die Fakten herum bauen, damit aus den Fakten ein Vortrag wird.
Woran liegt das? Autistische Kinder und Jugendliche haben oft Schwierigkeiten mit Füllwörtern, mit ungenauen
Begriffen, mit Redewendungen und gelegentlich auch mit Eigennamen oder Fremdwörtern. Dagegen fällt es vielen
leicht, sich Zahlen und Fakten zu merken.
Wenn der Stichpunktzettel also genau die Dinge enthält, die sich sowieso im Kopf befinden – wozu soll er dann gut
sein? Er ist nutzlos. Die eigentliche Schwierigkeit für autistische Kinder und Jugendliche besteht nicht darin, die
Daten und Fakten wiederzugeben, sondern diese Daten und Fakten mit geschmeidigen Wörtern zu einem Ganzen
zu verschmelzen, das sich dann Vortrag nennt.
Demzufolge sollte der Stichpunktzettel eines autistischen Lernenden die geschmeidigen Füllwörter und nicht die
Daten und Fakten erhalten. Der Stichpunktzettel könnte in diesem Fall zum Beispiel wie folgt aussehen:
Stichpunktzettel 2
•
der … ist eine … die sich zwischen …
•
die Bucht ist …, ihre Breite …
•
ihre Fläche beträgt …
•
die durchschnittliche Tiefe … und die maximale Tiefe …
•
die gesamte Wassermenge …, was kaum mehr als die des …
•
in der Bucht befindet sich vor allem … und die Verbindung zum Ozean …
•
durch den … gibt es eine schiffbare Verbindung …
•
die wichtigsten Städte und Häfen … Ust-Luga
Und plötzlich gelingt es dem autistischen Schüler oder der autistischen Schülerin ebenso einen Vortrag zum
Finnischen Meerbusen zu halten (wenn eventuelle andere Begrenzungen mit passenden Nachteilsausgleichen aus
dem Weg geräumt wurden).
Die hier vorgestellte Methode ist eine mögliche Option, die geprüft werden sollte. Der Blogartikel sollte nicht zu der
Annahme verleiten, dass diese Methode bei allen autistischen Lernenden funktioniert – dafür ist das Spektrum zu
groß.
Die hier vorgestellte Methode möchte vielmehr dazu verleiten, mit dem autistischen Schüler oder der autistischen
Schülerin gemeinsam herausfinden, welche Methode zum Erfolg führt. Und diese gefundene Methode sollte keine
Wertung von Richtig oder Falsch erfahren!