Heute flatterte …
© Inez Maus 2014–2024
… mir eine Zahlungsaufforderung der GEZ ins Haus.
Meine nicht-autistischen Leserinnen und Leser haben jetzt sicherlich eine sehr genaue Vorstellung davon, was
damit gemeint ist. Auf Nachfrage würden sie/Sie wahrscheinlich sagen, ich sei nach Hause gekommen, habe in den
Briefkasten geschaut und den entsprechenden Brief herausgenommen.
Die Redewendung „ins Haus flattern“ bedeutet, dass man einen Brief oder etwas Ähnliches in Papierform erhält.
Meist befindet sich das geflatterte Objekt im Briefkasten. Ins Haus flattern können viele Dinge, beispielsweise
Aufträge, Kataloge, Rechnungen, Einladungen, Mahnungen, Vorladungen, Anmeldungen.
Die autistischen Leser und Leserinnen visualisieren vielleicht einen Brief, der vom Wind durch die Luft gewirbelt
wurde und der dann zufällig aufgrund eines offenen Fensters in einem meiner Zimmer landete.
Autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben oft aufgrund ihrer logischen und klar strukturierten
Denkweise Schwierigkeiten mit Füllwörtern, mit ungenauen Begriffen und gelegentlich auch mit Eigennamen oder
Fremdwörtern. Dagegen fällt es vielen leicht, sich Zahlen und Fakten zu merken.
Eng verbunden mit dem wörtlichen Sprachverständnis ist das mehr oder weniger stark ausgeprägte Unvermögen
autistischer Kinder, Redewendungen oder Sprichwörter zu verstehen. Später erweitert sich die Liste der Dinge, die
Schwierigkeiten bereiten, um Metaphern, Ironie, Witze und Small Talk. Autistischen Menschen hilft es, derartige
sprachliche Formen entweder nicht zu benutzen oder sie zu erklären, wenn sie nicht verstanden werden.
Während der Schulzeit meines autistischen Sohnes notierte ich zu diesem Thema Folgendes:
Die Sprache wird wohl immer ein schwieriges Thema für unseren Sohn bleiben. Äußerungen wie „Ich fühl mich
nicht übers Ohr geschlagen“ oder „An dieser Vermutung sind Hand und Fuß“ zeigen sehr deutlich, wie das Denken
unseres Sohnes funktioniert. Benjamin setzt eine Redewendung in ein Bild oder in einen kurzen Film um und
speichert dies ab. Wenn er dann eine Redewendung benutzen will, ruft er das entsprechende Bild oder den Film
auf und beschreibt das „Gesehene“ mit seinen Worten. Trotz seiner Geschwister blieben die typische
Jugendsprache und Netzjargon für Benjamin immer ein unbetretenes Land. Wenn Pascal von der Schule nach
Hause kam und über seinen Heimweg erzählte: „In der U-Bahn saß ´n Punker mit soo ’nem Iro, ein Riesenteil war
das“, während er seine Erzählung mit den entsprechenden Gesten untermalte, dann verstand Benjamin meist kein
Wort davon und musste von uns erst einmal aufgeklärt werden.*
Visuelles Denken kann dazu führen, dass es autistischen Menschen, die aus einem Anpassungsbestreben heraus
Redewendungen oder Sprichwörter benutzen wollen, nicht gelingt, diese zu rezipieren und dann wortwörtlich
wiederzugeben. Mein autistischer Sohn verkündete zu Beginn seiner Ferien beispielsweise einmal, dass er nun
„eine ruhige Kugel hin- und herschieben“ werde. Nach den eben gegebenen Erklärungen wird sofort klar, wie der
Film aussieht, den er gespeichert hat, um sich diese Redewendung zu merken. Häufig bergen solche
Wortkonstruktionen eine unfreiwillige Komik. Hier sollte für umstehende Personen gelten: Lachen ist erlaubt,
auslachen verboten.
Für autistische Kinder kann es hilfreich sein, die Herkunft von Redewendungen gemeinsam nachzuschlagen. Viele
Formulierungen lassen ihren Ursprung nicht mehr erkennen oder beruhen auf Gegebenheiten, die heute nicht mehr
existieren. Durch das Ergründen ihrer Wurzeln fällt es autistischen Kindern leichter, sich die Wortkombinationen zu
merken.
Um Barrieren beim Lesen von Texten für autistische Menschen abzubauen, benutzen einige Autorinnen und
Autoren die Anmerkung (RW) oder (rw), wenn sie im Text eine Redewendung oder ein Sprichwort verwenden.
Einige autistische Menschen empfinden dies als echte Hilfe, andere sagen, dass sie an diesen Stellen beim Lesen
stolpern. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit Redewendungen sparsam umzugehen und bei Benutzung
dann die Erklärung in den Satz einzubauen, weil dies den Lesefluss nicht unterbricht. Beispiele hierfür sind: „Lügen
haben sprichwörtlich kurze Beine“ oder „Alle Kinder werden im übertragenen Sinne über einen Kamm geschoren.“
Jetzt könnte der oder die aufmerksam Lesende fragen, warum ich eine der beiden Ergänzungen nicht am Beginn
des Artikels eingefügt habe. Der Grund dafür ist folgender: Die anfangs erwähnte Zahlungsaufforderung der GEZ
flatterte nicht im übertragenen Sinne, sondern im wortwörtlichen Sinne in mein Haus, denn sie befand sich auf
meinem Balkon und gehört einem Mieter im Nachbaraufgang, der ein höheres Stockwerk bewohnt. Das Schreiben
muss also von der Wohnung des Adressaten aus zu mir geflattert sein – ob absichtlich oder unabsichtlich, kann ich
nicht sagen. Ich habe das Dokument im übertragenen Sinne zurückflattern lassen, also in seinen Briefkasten
gesteckt.
*Der Textauszug wurde zuerst hier veröffentlicht.