Hyperkomplexe Fragen
© Inez Maus 2014–2024
Im alltäglichen Zusammenleben mit einem autistischen Menschen gibt es viele kleine Dinge, die für einen
reibungslosen Ablauf sorgen können. Eines dieser kleinen Dinge möchte ich Ihnen heute mithilfe eines gerade
erlebten Beispiels nahebringen.
Benjamin, mein autistischer Sohn, und ich sitzen am Tisch, wir essen Pizza. Eine Kerze brennt. Ich muss den Tisch
verlassen und frage Benjamin auf die Kerze weisend: „Soll ich die ausmachen oder machst du das?“ Er antwortet
unverzüglich: „Ich mach das.“
Leon, Benjamins Vater, der sich in der Küche befindet und das Gespräch gehört hat, sagt zu mir beim Betreten des
Raumes: „Ihr habt beide kein Problem mit solchen hyperkomplexen Fragen, mich nervt das. Das ist doch
Energieverschwendung.“
Formal stimme ich ihm innerlich zu, überlege aber gleichzeitig, warum er doch unrecht hat – zumindest bezogen auf
unsere spezielle Situation.
Wenn ich zu Benjamin sage: „Soll ich die Kerze ausmachen?“, dann kann er mit Ja oder Nein antworten. Antwortet
er mit Ja, puste ich die Kerze aus. Antwortet er mit Nein, puste ich die Kerze nicht aus, aber Benjamin wird die Kerze
nach dem Essen auch nicht löschen, da ich ihn nicht dazu aufgefordert habe und da viele solcher Handlungen bei
ihm (noch) nicht automatisiert ablaufen.
Meine Zusatzfrage und seine Antwort darauf haben jedoch für ihn einen klaren Auftrag ergeben. Er wird die Kerze
vor dem Verlassen des Tisches auspusten. Die hyperkomplexen Fragen, die mir in das sprichwörtliche Fleisch und
Blut übergegangen sind, sorgen in vielen Bereichen für einen reibungslosen Ablauf des Alltags.
Nach meiner Erklärung hält Leon die hyperkomplexen Fragen nicht mehr für Energieverschwendung. Im Gegenteil –
er nimmt sich vor, weniger davon genervt zu sein.
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Eine mangelnde Automatisierung von Bewegungen und Handlungen ist bei vielen autistischen Menschen mehr oder
weniger stark ausgeprägt. Mangelnde Automatisierung von Bewegungen und Handlungen bedeutet, dass jede
Handlung so ausgeführt wird, als ob sie das allererste Mal vollführt wird. Mittels Automatisierung spart der
menschliche Körper Energie. Automatisierung ermöglicht, dass man bspw. beim Vorbereiten des Zähneputzens nicht
darüber nachdenken muss, wie die Zahnpasta auf die Bürste oder das Wasser in den Zahnputzbecher gelangt.
Automatisierung ermöglicht sogar, gleichzeitig eine andere Handlung wie bspw. eine Unterhaltung auszuführen.
Gelingt Automatisierung von Handlungen nicht oder nur ungenügend, sind die Kräfte rasch erschöpft, weil viel
Energie für scheinbar einfache Tätigkeiten benötigt wird. Dies erklärt auch, warum autistische Menschen bei
alltäglichen Handlungen schnell erschöpft sein können und mehr Pausen oder Auszeiten als nicht-autistische
Menschen benötigen. Überforderungssituationen entstehen schnell, wenn umgebende Personen aufgrund ihrer
persönlichen Erfahrung mit der jeweiligen Tätigkeit weitere Anforderungen an die autistische Person stellen. Im
Alltag können Schritt-für-Schritt-Anleitungen für diverse Tätigkeiten oder Handlungsimpulse für einzelne Teilschritte
dem autistischen Menschen helfen, die Handlungen selbst auszuführen und dabei die eigenen Ressourcen zu
schonen.