 
 
  Wo man singt …
 
  
 
  © Inez Maus 2014–2025
 
 
 
 
 
 
   
   
 
 
  …, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder.
  Oder: Wie viel Schaden können Redewendungen und Sprichwörter anrichten?
  Sprichwörter und Redewendungen bestimmen unseren Alltag. Im Repertoire eines erwachsenen Menschen 
  befinden sich durchschnittlich ca. 300 bis 500 derartige Verbindungen, die mehr oder weniger oft zum Einsatz 
  kommen. Laut duden.de ist eine Redewendung eine „feste Verbindung von Wörtern, die zusammen eine bestimmte, 
  meist bildliche Bedeutung haben“, wogegen ein Sprichwort ein „kurzer, einprägsamer Satz [ist], der eine praktische 
  Lebensweisheit enthält“. Sprichwörter vermitteln Volks- und Lebensweisheiten auf eine einprägsame, oft 
  metaphorische Art und Weise. Redewendungen, die meist nur aus einzelnen Wörtern bestehen, dienen dazu, etwas 
  zu erklären, was sonst umständlich umschrieben werden müsste. Wenn man sich beispielsweise wie ein Elefant im 
  Porzellanladen verhält, dann bedeutet dies, ganz verkürzt gesagt, dass man ungeschickt oder tollpatschig ist.
  Die eingangs zitierte Formulierung ist also ein Sprichwort. Dieses Sprichwort vermittelt die Erfahrung, dass singende 
  Menschen normalerweise keine schlechten Absichten hegen oder böse Gedanken formulieren, denn das 
  gemeinsame Singen ist eine soziale Aktivität, die verbindet.
  Genau genommen ist dieses Sprichwort aber ein geflügeltes Wort. Bei geflügelten Worten, die sowohl Sprichwörter 
  als auch Redewendungen sein können, ist der Urheber beziehungsweise eine Quelle bekannt. Beispiele hierfür sind 
  Goethes „des Pudels Kern“ (Faust) oder Schillers „Ich kenne meine Pappenheimer“ (Wallenstein). Das Sprichwort 
  über das Singen stammt aus einem Volkslied des deutschen Dichters Johann Gottfried Seume. 
  Im Original lautet es folgendermaßen:
  „Wo man singet, laß dich ruhig nieder,
  Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
  Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
  Bösewichter haben keine Lieder.“*
  Dieses Sprichwort lässt sich insofern kritisieren, dass es sehr wohl „böse Menschen“ gibt, die Lieder haben – 
  beispielweise Lieder, die der Propaganda dienen oder die benutzt werden, um in den Krieg zu ziehen. Natürlich ist 
  es hier immer eine Frage der Perspektive, wer von wem als „böser Mensch“ angesehen wird.
  Autistische Menschen haben aufgrund ihres wortwörtlichen Sprachverständnisses häufig Probleme mit bestimmten 
  sprachlichen Formulierungen. Bereits autistische Kinder fallen durch das mehr oder weniger stark ausgeprägte 
  Unvermögen auf, Füllwörter, Redewendungen oder Sprichwörter zu verstehen. Später erweitert sich die Liste der 
  Dinge, die Schwierigkeiten bereiten, um Metaphern, Ironie, Witze und Small Talk.
  Erwachsene Menschen mit dem Asperger-Syndrom lernen oft im Laufe ihres Lebens eine gewisse Anzahl an 
  Sprichwörtern und Redewendungen in ihrer Bedeutung auswendig, um sprachlichen Missverständnissen so aus 
  dem Weg gehen zu können. Gelegentlich versuchen sie sich aus einem Anpassungsbestreben heraus selbst am 
  Einsatz dieser Formulierungen, wobei der Erfolg aber nicht immer vorbestimmt ist. Es kann dabei unfreiwillig eine 
  gewisse sprachliche Komik entstehen, wenn autistische Menschen Redewendungen oder Sprichwörter benutzen, es 
  ihnen aber nicht gelingt, diese zu rezipieren und dann wortwörtlich wiederzugeben. Mein autistischer Sohn erzählte 
  mir in seiner Schulzeit beispielsweise von einem Schüler, der laut der Meinung einer Lehrperson später „auf die 
  schiefe Umlaufbahn gelangen wird“.
  Ein weiteres Erlebnis im Zusammenhang mit Sprichwörtern berichtete mir eine erwachsene, spätdiagnostizierte 
  Autistin, mit der ich mich im Zuge meiner Recherchen zu meinem neuen Buch „Familienbande bei Autismus“ 
  unterhielt. Das eingangs erwähnte Sprichwort löst bis heute unangenehme Gefühle bei ihr aus. Der Grund dafür ist, 
  dass ihre Mutter sie aufgrund ihrer auditiven Wahrnehmungsempfindlichkeit mit Bezug auf dieses Sprichwort zum 
  wiederholten Male als „schlechten Menschen“ bezeichnet hatte. Die Mutter hörte fast ständig Schlagersendungen im 
  Radio und sang die Lieder bei der Hausarbeit lautstark mit. Die Tochter erledigte Hausarbeit ohne Gesang und 
  Radio. Des Öfteren bat sie die Mutter um etwas Ruhe oder um zumindest weniger Lautstärke. Diese Bitten wurden 
  nicht nur stets mit dem Hinweis auf obiges Sprichwort abgelehnt, sondern auch mit der Aufforderung ergänzt, die 
  Tochter solle ihr Verhalten ändern und sich endlich „sozialer verhalten“, damit sie kein schlechter Mensch mehr sei.
  Mit ihrem heutigen Wissen über Autismus kann meine Gesprächspartnerin die Erlebnisse gut einsortieren und 
  trotzdem bleiben sie – wie bereits erwähnt – in der Erinnerung stark haften. Unklar ist die Motivation der Mutter für 
  ihr Handeln: Wollte sie die Tochter wirklich auf einen guten Weg bringen? War sie nicht bereit, über ihr eigenes 
  Verhalten nachzudenken? Oder konnte sie sich wirklich nicht vorstellen, dass lautes Singen und Radiohören – 
  Dinge, die ihr Freude bereiten – für andere Menschen zur Belastung werden können?
  Sicherlich gibt es viele spätdiagnostizierte autistische Menschen, die in ihrem Leben ähnliche Erlebnisse hatten. 
  Viele dieser Handlungen geschehen aus Unwissenheit, aber einige auch aus dem immer noch allgegenwärtig 
  vorzufindenden Bestreben, autistische Menschen der Gesellschaft anpassen zu wollen, anstatt die Gesellschaft so 
  zu gestalten, dass autistische Menschen sich ohne oder mit wenig Anpassung darin zurechtfinden oder sogar 
  wohlfühlen können. Einen ersten Schritt zum Wohlfühlen können nicht-autistische Menschen tun, indem sie 
  sensibler mit Sprichwörtern und Redewendungen umgehen, wenn sie mit autistischen Menschen interagieren.
  * Maria Grazia Chiaro, Werner Scholze-Stubenrecht (2002). Duden, Zitate und Aussprüche. In: Dudenredaktion (Herausgeber), Der 
  Duden in 12 Bänden. (2., neubearbeitete und aktualisierte Auflage) (S. 623), Dudenverlag: Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich.
  
 