Gedanken zum Weltautismustag
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag von Jannis Benjamin Ihrig.
Einen Nutzen haben – das ist eine Erwartung, der sich wohl jeder Mensch zu jeder Zeit an jedem Ort stellen musste.
Es liegt auf der Hand: Nichts in dieser Welt wächst auf Bäumen und kann ohne Mühe erlangt werden. Selbst für
einen Apfel muss man auf den Baum klettern. Ganz zu schweigen davon, dass ein Obstbaum, soll seine Krone zur
Erntezeit reich beschwert sein, über die Jahre gehegt und gepflegt werden muss.
Wer selbst nicht auf den Baum klettern kann, braucht jemand anderen, der es für einen tut. In diesem Fall ist man
eine Last. Eine Last, die in schlechten Zeiten einfach abgeschüttelt wurde. In guten Zeiten wurde man zwar
getragen, aber auch verwaltet. Man wird in seine eigene Nische abgeschoben, damit man für die Gesellschaft eine
berechenbare Last ist. Eine vielleicht zynische, aber auch klare Beziehung zwischen dem Nützlichen und dem
liebevollen Nutzlosen.
Wenn man so schwer behindert ist, dass man sein ganzes Leben lang nicht für sich selbst sorgen kann, dann hat
man sich immer noch mit einigem herumzuschlagen. Doch zumindest ist die Beziehung zum Rest der Gesellschaft
klar. Anders sieht es aber für jene aus, die zwischen Nutzen und Nutzlosigkeit hängen: Die Behinderten, die in
bestimmten Bereichen eingeschränkt sind, aber einen Nutzen haben könnten. Uns beäugt die Gesellschaft
misstrauisch mit der Frage im Kopf, ob es der Mühe wert war, jenen Nutzen herauszugraben. Oder ob es
letztendlich einfacher wäre, uns in die andere Gruppe zu tun und uns irgendwohin abzuschieben, wo man uns mit
dem alljährlichen Almosen abspeist. Wenn man uns fördert, erwartet man von uns nicht das Durchschnittliche. Wir
müssen übertreffen. Leisten wir das nicht, versagen wir auch nur einmal, dann sind wir zu behindert und der Mühe
nicht wert.
Können wir eine Aufgabe nicht erfüllen, dann sind wir die dummen Autisten, die nichts können, und nicht einfach
Leute, die etwas nicht können. Wie der Rest der Menschheit. Verlieren wir die Nerven, dann sind wird die
unbeherrschten Autisten, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten können. Wenn irgendein Wutbürger
herumbrüllt, dann ist er nur ein besorgter Bürger, der sich freimachen muss. Und wenn wir nicht irgendetwas
Phänomenales schaffen, dann sind wir nutzlose Autisten. Man gesteht uns nicht das Recht zu, durchschnittliche
Männer und Frauen zu sein, die ihr ganzes Leben lang nichts Aufsehenerregendes schaffen, sondern einfach nur ihr
Leben leben dürfen.
Was ich geschrieben habe, mag für manche die nackte Wahrheit sein. Andere denken, dass ich zu
schwarzmalerisch bin. Ich will keines von beiden in Abrede stellen, doch die Absicht hinter diesen Worten ist etwas
anderes: Dies sind die Dämonen, die mich heimsuchen. Ob sie mir nun von der Gesellschaft eingetrichtert wurden
oder von meinem Unterbewusstsein gesponnen wurden, kann ich nicht mit Sicherheit sagen und will dies auch hier
nicht tun. Es geht mir vielmehr um eine Botschaft an alle, die sich beweisen müssen, nicht nur Autisten und andere
Behinderte: Wenn du versagst, dann hast du nicht versagt, weil du behindert oder zu dumm bin. Du hast versagt,
weil Versagen menschlich ist. Wenn du die Kontrolle über deine Gefühle verlierst, dann geschah es nicht, weil du ein
defekter Mensch bist. Sondern es geschah, weil alle Menschen von ihren Emotionen getrieben werden. Und gräme
dich nicht, weil du nichts Herausstehendes geleistet hast. Am Leben zu sein und sich mit ihm herumzuschlagen, ist
eine Leistung für sich selbst.