Barrieren in der Schriftsprache
© Inez Maus 2014–2024
Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einem Autisten, der mein Blog abonniert hat, über seine Arbeit und sein
Engagement in einer Selbsthilfegruppe. Er erklärte mir unter anderem, was für ihn im Schriftverkehr mit Kollegen
schwierig ist. Ziemlich unvermittelt äußerte er: „Ihre Texte zeichnen sich durch Klarheit aus, das gefällt mir.“
Ich vermutete, dass er damit eine inhaltliche Klarheit meint, also Texte ohne widersprüchliche Aussagen und ohne
Formulierungen, die autistischen Menschen Schwierigkeiten bereiten könnten. Er meinte aber nicht nur das soeben
Aufgezählte, sondern noch viele weitere Dinge, über die autistische Menschen in geschriebenen Texten im
übertragenen Sinne stolpern können. Letztendlich kam im Gespräch eine Liste an möglichen Barrieren in der
Schriftsprache zusammen, denn mein Gesprächspartner teilte auch seine Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe zu
diesem Thema mit mir.
Bevor ich die Barrieren in der Schriftsprache hier zusammenfasse, möchte ich anmerken, dass niemals alle, sondern
immer nur ein gewisser Teil autistischer Menschen die in den folgenden Punkten aufgelisteten Schwierigkeiten hat.
Dieser Teil sollte aber auf jeden Fall Beachtung finden und nicht-autistische Menschen über einige Gewohnheiten
bei der Verwendung von Schriftsprache nachdenken lassen, besonders dann, wenn sich ihre Texte explizit auch an
autistische Menschen richten.
Folgende Dinge in geschriebenen Texten können autistischen Menschen Schwierigkeiten beim Lesen der Texte
bereiten:
•
Autistische Menschen mit Problemen beim Sprachverständnis empfinden geschlechtsneutrale Sprache oft als
Herausforderung. Hierfür genutzte Varianten mit Sternchen oder Schräg- bzw. Unterstrichen sind Eingriffe in die
Sprache, die das Verständnis verbaler Sprache (sowohl gesprochener als auch geschriebener) erheblich
erschweren können. Ebenso das abwechselnde Benutzen der männlichen und weiblichen Form bestimmter
Menschengruppen, wie bspw. „An Bord befanden sich Passagiere sowie Kapitäninnen, Wissenschaftler und
Journalistinnen“, erzeugt bei autistischen Menschen oft Verwirrung, weil sie dann zum Beispiel darüber grübeln,
wieso ausschließlich weibliche Journalisten und Kapitäne an der Reise teilnahmen. Am Anfang des Jahres hatte
ich eine interessante Diskussion zu diesem Thema mit einer Fachfrau für Diversität und Inklusion (so stellte sie
sich vor). Sie wusste nicht viel über Autismus, stellte mir aber eine interessante Frage: „Hätten Autisten keine
Schwierigkeiten mit dem Gendern, wenn sie das bereits im Kindergarten lernen würden?“ Eine eindeutige
Antwort darauf vermochte ich nicht zu geben, aber ich kann mir vorstellen, dass der Teil der autistischen
Menschen, der aufgrund von Schwierigkeiten mit Veränderungen dem Gendern ablehnend gegenübersteht,
dieses Problem nicht hätte, wenn „sie das bereits im Kindergarten“ gelernt hätten. Bei Problemen mit dem
Verständnis von Sprache blieben die Schwierigkeiten bestehen.
•
Besonders in Texten, die im Internet veröffentlicht werden, werden immer häufiger Wörter oder Wortgruppen fett
geschrieben oder unterstrichen. Gelegentlich finden sich auch Fettungen, Kursivierungen und Unterstreichungen
in ein und demselben Satz. Autistische Menschen werden im Lesefluss durch solche nicht klar geregelten
Hervorhebungen unterbrochen, weil sie darüber nachdenken, welche tiefere Bedeutung jede einzelne Variation
des Textes hat.
•
Zu den eben aufgezählten Hervorhebungen in geschriebenen Texten gesellen sich oft Emoticons und andere
Bildchen, die teilweise als Ersatz für bestimmte Wörter eingesetzt werden. Auch sie können den Lesefluss
erheblich beeinträchtigen, besonders dann, wenn sie als sogenannte Rudeltiere (also in großer Anzahl)
eingesetzt wurden. Bilder im Text, die bestimmte Wörter ersetzen, führen bei autistischen Menschen oft dazu,
dass der Sinn des entsprechenden Textes verzerrt wird, weil beispielsweise das Bild eines kleinen einstöckigen
Hauses für ein mehrstöckiges Gebäude im Text verwendet wurde. Spätestens an der Stelle, wenn dem
autistischen Leser die Information zuteilwird, dass es sich im Text um ein mehrstöckiges Gebäude handelt, setzt
bei ihm eine Grübelschleife ein, warum das Bild des Hauses dem widerspricht – und der Lesefluss ist damit
unterbrochen.
•
Autistische Menschen berichteten mir schon des Öfteren, dass sie Sätze wie „Ich hab das mal für euch
recherchiert, damit ihr das nicht machen müsst“ hochgradig irritieren, weil sie definitiv die solche Sätze
verfassenden Personen nicht um eine solche Recherche gebeten haben.
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Redewendungen, Sprichwörter, Ironie, Sarkasmus und Witze können autistischen Menschen Schwierigkeiten im
Verständnis bereiten. In Texten, die sich auch an eine autistische Leserschaft richten, werden Redewendungen
daher oft mit „(rw)“ oder „(RW)“ gekennzeichnet. Einige autistische Menschen haben generell Schwierigkeiten mit
der Benutzung von Abkürzungen, was oft dazu führt, dass von ihnen keine Abkürzungen benutzt werden. Bei
Mitschriften in der Schule oder im Studium kann das schnell zu einem Zeitproblem führen. Ebenso können die
Kennzeichnungen der Redewendungen den Lesefluss abrupt unterbrechen.
•
Lange Einleitungen eines Textes, die wenig Inhalt haben und redundant sind, wirken rasch ermüdend, weil
autistische Menschen oft auch in eher inhaltslosen Textpassagen einen Sinn suchen und weil sie entsprechende
Textstellen nicht einfach überfliegen, das bedeutet flüchtig lesen, können. Dies gilt auch für den restlichen Text.
•
Ungereimtheiten in der Benutzung von Satzzeichen können ebenfalls zu stressigen Situationen beim Lesen
eines Textes führen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Anführungszeichen, die hinter dem Wort
sogenannte verwendet werden, sind überflüssig, denn das Wort sogenannte beschreibt bereits, dass das
folgende Wort nicht im wörtlichen Sinne gebraucht wurde beziehungsweise zu verstehen ist. Ähnlich verhält es
sich mit der Kombination von zum Beispiel oder beispielsweise und sich an die dann folgenden Beispiele
anschließenden „…“, die bedeuten, dass es weitere Beispiele gibt. Entweder die erste oder die zweite Variante
wäre die korrekte Schreibweise.
Wie anfangs erwähnt, lassen sich die hier aufgeführten Schwierigkeiten nicht für alle autistischen Menschen
verallgemeinern. Nach meinem Gespräch mit dem Leser meines Blogs fragte ich meinen autistischen Sohn, welche
Dinge in geschriebenen Texten ihm Schwierigkeiten bereiten. Er dachte einen Moment lang nach und antwortete
dann: „Eigentlich keine.“