Wackelturm der Reizüberflutung
© Inez Maus 2014–2024
Für meine nicht-autistischen Kinder entwickelte ich vor einigen Jahren ein Spiel, um ihnen die Reaktionen ihres
autistischen Bruders zu erklären, wenn jener in eine Reizüberflutungssituation (umgangssprachlich „Overload“) geriet.
Eigentlich handelte es sich dabei nicht um ein neues Spiel, sondern um die Abwandlung im Sinne einer kreativen
Erweiterung eines ihnen bereits bekannten Spiels – nämlich das Ziehen von Holzquadern aus einem Wackelturm.
Wahrnehmungsprobleme entstehen bei autistischen Menschen dann, wenn trotz intakter Sinnesorgane die Aufnahme,
Weiterleitung und/oder Verarbeitung von Reizen gestört ist bzw. anders funktioniert. Dies kann alle Sinnesorgane
betreffen und sich in einer Hyper- oder Hyposensibilität äußern. Gerade im auditiven und im taktilen Bereich bereitet
eine Hypersensibilität vielen autistischen Menschen meist außerhalb der vertrauten Umgebung Probleme. Ebenso
können aber auch sensorische Leistungen, die nicht von spezialisierten Sinnesorganen erbracht werden,
beeinträchtigt sein beziehungsweise anders erbracht werden. Dies betrifft beispielsweise die Schmerzwahrnehmung,
die Oberflächen- und Tiefensensibilität und Signale über den Zustand der Eingeweide.
Oben erwähntes Siel ist inzwischen fester Bestandteil meiner Fortbildungen, Workshops oder Seminare, wenn es um
das Thema der Geschwister, aber auch der Freunde und Freundinnen oder Mitschüler und Mitschülerinnen eines
autistischen Kindes geht, oder darum, bestimmte Aspekte der Wahrnehmung von autistischen Menschen zu
verdeutlichen. Viele Teilnehmer dieser Veranstaltungen baten mich daraufhin um eine detaillierte Spielanleitung.
Diesen Wunsch möchte ich heute erfüllen.
Folgende Materialien werden für das Spiel benötigt:
•
ein handelsüblicher Wackelturm
•
ein Blatt Papier (max. DIN A5)
•
kleine farbige Zettel (die Anzahl entspricht der Zahl der Mitspielenden)
•
ein Stift (der herumgereicht wird) oder für jeden Mitspielenden ein eigener Stift
Zu Beginn des Spiels einigen sich die
Mitspielenden auf einen Ort außerhalb des
eigenen Zuhauses, der sowohl von dem
autistischen Kind als auch von den nicht-
autistischen Kindern regelmäßig aufgesucht
wird. Dieser Ort wird auf dem Blatt Papier
notiert und so auf dem Spieltisch abgelegt,
dass alle Kinder ihn während des Spiels sehen
können. Wenn das Spiel in mehreren Runden
gespielt wird, kann auch jedes Kind einen Ort
nennen, sodass in jeder Spielrunde ein
anderer Ort an die Reihe kommt. Der im
folgenden Beispiel beschriebene Ort ist ein
Spielplatz.
Als Nächstes wird ein Sinneskanal festgelegt (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen). Für das folgende
Beispiel wurde die auditive Wahrnehmung ausgewählt.
Das erste Kind wird nun aufgefordert, ein
Geräusch, welches auf dem Spielplatz
auftreten kann, auf den Zettel zu schreiben,
oder – wenn es sich um jüngere Kinder
handelt – zu zeichnen. Danach zieht es einen
Stein aus dem Wackelturm und legt diesen auf
seinem Zettel ab. Es bietet sich an,
beispielsweise bei Geschwistern jüngere
Kinder beginnen zu lassen, um ihnen einen
Ausgleich für ihre noch nicht so gut entwickelte
Motorik zu gewähren. Bei gleichalten Kindern
kann die Reihenfolge der Spielenden auch
durch Lose entschieden werden.
Das nächste Kind, welches an der Reihe ist,
muss nun ein anderes Geräusch benennen
und genauso vorgehen wie das erste Kind.
Das Spiel wird auf diese Weise fortgesetzt, bis
alle Kinder einmal an der Reihe waren.
Dann beginnt die zweite Runde mit dem Kind,
welches das Spiel eröffnet hat. Das Spiel wird
so lange gespielt, bis der Turm mit einem
lauten Geräusch zusammenstürzt. Wenn ein
autistisches Kind an dem Spiel teilnimmt, sollte
auf einen entsprechenden Gehörschutz
geachtet werden.
Jedes Kind begreift auf diese Art, was eine Reizüberflutung ist und wie sie entsteht. Kinder lernen durch dieses
Experiment aber noch viel mehr:
•
Sie werden durch ihr aktives Nachdenken über die jeweiligen Reize an einem bestimmten Ort für all die Reize
sensibilisiert, die sie mühelos verarbeiten oder ausblenden können.
•
Wenn das Spiel für einen Ort mit mehreren Sinneskanälen durchgespielt wird, begreifen sie, dass sich sehr schnell
viele Reize summieren können, die dem autistischen Kind Probleme bereiten.
•
Das Spiel verdeutlicht nicht-autistischen Kindern ebenfalls, dass nicht zwingend immer ein und derselbe Reiz eine
Stressreaktion bei dem autistischen Kind auslöst, sondern dass diese Stressreaktion auch von der Reihenfolge
oder der Intensität der entsprechenden Reize abhängen kann.
Abwandlungen des Spiels ermöglichen es, der alltäglichen Realität des autistischen Kindes noch ein Stück näher zu
kommen. In einer solchen Variante kann der Wackelturm zu Beginn beispielsweise etwas schief oder unordentlich
aufgebaut werden. Er steht dann zwar als Turm da, wird aber viel schneller einstürzen. Das verdeutlicht den nicht-
autistischen Kindern, dass die Reaktionen des autistischen Kindes auf bestimmte Reize auch von Vorerlebnissen am
jeweiligen Tag (sowohl stressige als auch freudige) abhängen.