Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 29. September 2023
Wackelturm der Reizüberflutung
© Inez Maus 2014–2024
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Für meine nicht-autistischen Kinder entwickelte ich vor einigen Jahren ein Spiel, um ihnen die Reaktionen ihres autistischen Bruders zu erklären, wenn jener in eine Reizüberflutungssituation (umgangssprachlich „Overload“) geriet. Eigentlich handelte es sich dabei nicht um ein neues Spiel, sondern um die Abwandlung im Sinne einer kreativen Erweiterung eines ihnen bereits bekannten Spiels – nämlich das Ziehen von Holzquadern aus einem Wackelturm. Wahrnehmungsprobleme entstehen bei autistischen Menschen dann, wenn trotz intakter Sinnesorgane die Aufnahme, Weiterleitung und/oder Verarbeitung von Reizen gestört ist bzw. anders funktioniert. Dies kann alle Sinnesorgane betreffen und sich in einer Hyper- oder Hyposensibilität äußern. Gerade im auditiven und im taktilen Bereich bereitet eine Hypersensibilität vielen autistischen Menschen meist außerhalb der vertrauten Umgebung Probleme. Ebenso können aber auch sensorische Leistungen, die nicht von spezialisierten Sinnesorganen erbracht werden, beeinträchtigt sein beziehungsweise anders erbracht werden. Dies betrifft beispielsweise die Schmerzwahrnehmung, die Oberflächen- und Tiefensensibilität und Signale über den Zustand der Eingeweide. Oben erwähntes Siel ist inzwischen fester Bestandteil meiner Fortbildungen, Workshops oder Seminare, wenn es um das Thema der Geschwister, aber auch der Freunde und Freundinnen oder Mitschüler und Mitschülerinnen eines autistischen Kindes geht, oder darum, bestimmte Aspekte der Wahrnehmung von autistischen Menschen zu verdeutlichen. Viele Teilnehmer dieser Veranstaltungen baten mich daraufhin um eine detaillierte Spielanleitung. Diesen Wunsch möchte ich heute erfüllen. Folgende Materialien werden für das Spiel benötigt: ein handelsüblicher Wackelturm ein Blatt Papier (max. DIN A5) kleine farbige Zettel (die Anzahl entspricht der Zahl der Mitspielenden) ein Stift (der herumgereicht wird) oder für jeden Mitspielenden ein eigener Stift Zu Beginn des Spiels einigen sich die Mitspielenden auf einen Ort außerhalb des eigenen Zuhauses, der sowohl von dem autistischen Kind als auch von den nicht- autistischen Kindern regelmäßig aufgesucht wird. Dieser Ort wird auf dem Blatt Papier notiert und so auf dem Spieltisch abgelegt, dass alle Kinder ihn während des Spiels sehen können. Wenn das Spiel in mehreren Runden gespielt wird, kann auch jedes Kind einen Ort nennen, sodass in jeder Spielrunde ein anderer Ort an die Reihe kommt. Der im folgenden Beispiel beschriebene Ort ist ein Spielplatz. Als Nächstes wird ein Sinneskanal festgelegt (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen). Für das folgende Beispiel wurde die auditive Wahrnehmung ausgewählt. Das erste Kind wird nun aufgefordert, ein Geräusch, welches auf dem Spielplatz auftreten kann, auf den Zettel zu schreiben, oder – wenn es sich um jüngere Kinder handelt – zu zeichnen. Danach zieht es einen Stein aus dem Wackelturm und legt diesen auf seinem Zettel ab. Es bietet sich an, beispielsweise bei Geschwistern jüngere Kinder beginnen zu lassen, um ihnen einen Ausgleich für ihre noch nicht so gut entwickelte Motorik zu gewähren. Bei gleichalten Kindern kann die Reihenfolge der Spielenden auch durch Lose entschieden werden. Das nächste Kind, welches an der Reihe ist, muss nun ein anderes Geräusch benennen und genauso vorgehen wie das erste Kind. Das Spiel wird auf diese Weise fortgesetzt, bis alle Kinder einmal an der Reihe waren. Dann beginnt die zweite Runde mit dem Kind, welches das Spiel eröffnet hat. Das Spiel wird so lange gespielt, bis der Turm mit einem lauten Geräusch zusammenstürzt. Wenn ein autistisches Kind an dem Spiel teilnimmt, sollte auf einen entsprechenden Gehörschutz geachtet werden. Jedes Kind begreift auf diese Art, was eine Reizüberflutung ist und wie sie entsteht. Kinder lernen durch dieses Experiment aber noch viel mehr: Sie werden durch ihr aktives Nachdenken über die jeweiligen Reize an einem bestimmten Ort für all die Reize sensibilisiert, die sie mühelos verarbeiten oder ausblenden können. Wenn das Spiel für einen Ort mit mehreren Sinneskanälen durchgespielt wird, begreifen sie, dass sich sehr schnell viele Reize summieren können, die dem autistischen Kind Probleme bereiten. Das Spiel verdeutlicht nicht-autistischen Kindern ebenfalls, dass nicht zwingend immer ein und derselbe Reiz eine Stressreaktion bei dem autistischen Kind auslöst, sondern dass diese Stressreaktion auch von der Reihenfolge oder der Intensität der entsprechenden Reize abhängen kann. Abwandlungen des Spiels ermöglichen es, der alltäglichen Realität des autistischen Kindes noch ein Stück näher zu kommen. In einer solchen Variante kann der Wackelturm zu Beginn beispielsweise etwas schief oder unordentlich aufgebaut werden. Er steht dann zwar als Turm da, wird aber viel schneller einstürzen. Das verdeutlicht den nicht- autistischen Kindern, dass die Reaktionen des autistischen Kindes auf bestimmte Reize auch von Vorerlebnissen am jeweiligen Tag (sowohl stressige als auch freudige) abhängen.