Avatar im Computerspiel
© Inez Maus 2014–2024
„Ich habe Xenia gestern Nacht noch einmal in ihrem Haus besucht. Sie saß weinend auf dem Bett, ein Plüschtier im
Arm haltend, und starrte auf das Loch in der Wand und die zerstörte Küche. Ich habe mit ihr dann gemeinsam den
Kamin entfernt, die schöne Küche wieder aufgebaut und vereinbart, dass erst Land und ein neues Zimmer erarbeitet
werden, bevor der Kamin eingebaut wird. Danach ging es ihr wieder gut. Heute habe ich sie noch nicht besucht, aber
ich denke, sie wird sich an ihrer reifenden Baumwolle erfreuen.“
Diesen Text schrieb ein autistisches Mädchen über ihren Avatar in einem Computerspiel. Sie schlussfolgerte, dass
sich ihr Avatar genauso „autistisch“ verhalte wie sie im realen Leben. Das unerwartete Loch in der Wand ihres
Hauses, welches das Computerprogramm zum Einbau des Kamins erzeugte, rief bei ihr Veränderungsängste hervor.
Natürlich wurde die „schöne Küche“ nicht zerstört, sondern die Möbel und Accessoires fanden sich im Lager wieder
und konnten neu aufgestellt werden. Aus dem Text geht aber ebenfalls hervor, dass die Schreiberin eine Lösung für
dieses Problem gefunden hat.
Wieso spielen wir Computerspiele? Die Gründe können vielfältig sein: um Spaß zu haben, um mit anderen zu
interagieren, um die Zeit oder Langeweile zu vertreiben, um gewisse Dinge zu lernen … Die Autorin des
Eingangszitates möchte beim Spielen von Computerspielen sowohl Spaß haben als auch gewisse Dinge erlernen wie
zum Beispiel soziale Fähigkeiten. Ihre Avatare haben daher große Ähnlichkeit mit ihr, weil sie hofft, einige Dinge, die
sie in der „ungefährlichen“ Interaktion mit anderen Spielern erlernt, ins wahre Leben übertragen zu können. Als
ungefährlich betrachtet sie die Interaktionen, weil alle Spieler sich nur über ihre Avatare und deren erfundene Namen
kennen.
Beim Nachdenken über die obigen Aussagen stellte ich mir die Frage, nach welchen Kriterien andere autistische
Menschen ihre Avatare in Computerspielen auswählen. Da war es naheliegend, zuerst einmal meinen autistischen
Sohn zu fragen.
Er antwortete Folgendes:
„Als ich über die Frage meiner Mutter nachdachte – etwas, was ich tatsächlich noch nicht getan hatte, obwohl ich viele
Videospiele spiele – merkte ich, dass ich doch eine eher ungewöhnliche Beziehung zu meinen Spieler-Avataren
pflege. Wenn ich mir in einem Rollenspiel einen eigenen Charakter erschaffen kann, dann erstelle ich mir beim ersten
Durchgang eine Figur, die in sich zwei Dinge vereinigt: Wer ich bin und was ich sein will. Das mag nun sehr
gewöhnlich klingen, denn die allermeisten Spieler versuchen sicher, sich selbst abzubilden und gleichzeitig eine
Power-Fantasy auszuleben.
Doch in meinem Fall gibt es eine eher düstere Unternote, denn wenn es eine Auswahl an Fantasy-Völkern oder
Science-Fiction-Spezies gibt, dann suche ich mir zumeist die mehr monströsen Wesen aus – zum Beispiel den
Halbork, den Dämonenabkömmling oder das außerirdische Monstrum. Auch bei der Klassenwahl wähle ich zumeist
moralisch fragwürdige Klassen wie den Nekromanten, den Okkultisten oder den Giftmischer. Warum aber? Nun, leider
denke ich über mich gerade in düsteren Momenten als einen Freak im Geistigen, der wegen seiner Andersartigkeit
vom Rest der Gemeinschaft isoliert ist. Vielleicht mochte ich deshalb immer schon Figuren in Geschichten, die wegen
ihrer Monstrosität gemieden wurden. Und beneidete sie, denn dadurch, dass sie Freaks im Körperlichen waren,
verfügten sie zumeist über enorme Kräfte und coole Fähigkeiten. Sie waren vielleicht allein, aber mächtig.
Es gibt aber hier einen Lichtblick: Im Spiel selbst, wenn meine Figur Entscheidungen fällen muss, versuche ich, ein
guter Mensch zu sein. Somit versucht eben auch mein Nekromant das Richtige zu tun und hasst nicht die
Gesellschaft, die ihn ausgegrenzt hat.“