Weglauftendenz bei Autismus
© Inez Maus 2014–2024
In den vergangenen Tagen bin ich immer wieder auf das Weglaufen von autistischen Menschen angesprochen
worden. Der vielfach geäußerten Bitte nach Informationen zu diesem Thema komme ich nun mit diesem Blogartikel
nach.
Autistische Kinder laufen weg, wenn dies die einzig mögliche Handlungsoption in einer stressigen Situation ist, auf die
sie zugreifen können. Das Weglaufen beschränkt sich aber nicht nur auf autistische Kinder, auch autistische
Jugendliche und Erwachsene können dieses Verhalten zeigen. Weglaufen bedeutet, dass sich das autistische Kind,
ohne ein für betreuende Personen wahrnehmbares körperliches oder verbales Signal zu geben, aus einer Situation
meist rennend entfernt.
Für das Weglaufen gibt es vielfältige Ursachen. Sie reichen von Angst über sensorische Belastungen und soziale
Missverständnisse bis zu unerfüllten Bedürfnissen. Auch Langeweile, ein Erschrecken oder körperliche Zustände, die
nicht gedeutet werden können, wie beispielsweise Erschöpfung, Hunger, Durst oder Müdigkeit, kommen als Auslöser
infrage. Alle diese Auslöser haben die Gemeinsamkeit, dass sie nicht adäquat kommuniziert werden können –
entweder, weil das autistische Kind nonverbal ist beziehungsweise mit alternativen Kommunikationsmöglichkeiten den
Auslöser nicht benennen kann oder weil es in der entsprechenden Situation nicht auf Sprache oder andere
Kommunikationsmittel zugreifen kann.
Das Weglaufen kommt daher bei nonverbalen autistischen Kindern häufiger vor als bei sprechenden. Durch das
Weglaufen geraten autistische Kinder oft in gefährliche Situationen, wenn sie befahrene Straßen, Bahngleise,
Abhänge, Sümpfe oder Gewässer nicht als Gefahrenquellen wahrnehmen oder erkennen. Auch fällt es autistischen
Kindern in solchen Situationen schwer, vertraute und fremde Personen voneinander zu unterschieden. Autistische
Jugendliche und Erwachsene äußerten in Gesprächen nach Weglaufsituationen häufig, dass sie die auslösenden
Umstände als lebensbedrohend empfunden hatten.
Bei Eltern führt die latente Angst vor dem Weglaufen des autistischen Kindes oft dazu, dass sie sich hilflos fühlen, weil
diese Situationen nicht verhindert werden können. Wenn diese Angst jeden Schritt vor die Tür begleitet, entsteht hier
schnell ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis.
Das Weglaufen von autistischen Kindern lässt sich nur vermindern oder verhindern, wenn die vorausgegangenen
Ereignisse rekapituliert werden. Dazu sollten Beobachtungsprotokolle angelegt werden, weil so die Möglichkeit
besteht, Muster und Ursachen aufzudecken. Autismus-Hunde können ebenso das Weglaufen verhindern, indem sie
einen Alarmknopf betätigen, wenn das Kind versucht, das Wohnumfeld zu verlassen. Außerhalb des Wohnumfeldes
ist der Hund mit einer Leine mit dem Kind verbunden. So kann er allein durch sein Körpergewicht ein Weglaufen
verhindern.
Auch Benjamin, mein autistischer Sohn, lief in seiner frühen Kindheit extrem oft weg. Glücklicherweise ist dieses
Weglaufen immer von einer Person in seinem Umfeld bemerkt worden. Als Benjamin am Ende seiner Vorschulzeit
begann, sich verbal zu artikulieren, nahmen die Weglauf-Episoden ab. Eine der Weglaufsituationen, die unseren Alltag
prägten, habe ich in meinem Buch „Mami, ich habe eine Anguckallergie“ beschrieben. Hier gebe ich einen Auszug
wieder:
Wenn ich mit meinen beiden Kleinen unterwegs war, kam es immer wieder vor, dass sich gefährliche Situationen
ergaben. An einem wunderschönen Wintertag beschloss ich, mit Benjamin Schlitten zu fahren. Da Pascal stark
erkältet war und nicht laufen wollte, wurde er dick eingepackt und in den Sportwagen gesetzt. Eine Weile ging alles
ganz gut. Ich schob den Sportwagen mühsam durch den Schnee und zog Benjamin auf dem Schlitten hinterher und
beide Kinder waren zufrieden. Auf dem Rückweg mussten wir eine kleine Kreuzung passieren, wo es nach rechts zum
S-Bahnhof, nach links zu Conrads Schule und dann nach Hause und geradeaus zum Spielplatz ging. Alle diese Wege
waren Benjamin meiner Meinung nach bestens vertraut. Wie immer bei einer Richtungsänderung kündigte ich
Benjamin an, wohin wir jetzt gehen würden, nämlich nach Hause. Wie immer rief diese Information keine Reaktion
hervor. Als ich um die Ecke bog und gerade versuchte, den Kinderwagen die kleine Neigung zur Brücke über den
Fluss hochzuschieben, sprang Benjamin wortlos vom Schlitten und rannte in die andere Richtung. Bis zum Bahnhof
waren es von der Brücke aus ungefähr zweihundert Meter. Ich erschrak zutiefst, forderte Benjamin auf, stehen zu
bleiben und versuchte gleichzeitig, den Kinderwagen zu wenden. Benjamin hatte schon einen beachtlichen
Vorsprung, ignorierte meine Rufe und ich versuchte verzweifelt, im Schnee schneller voranzukommen, was wegen
des leichten Anstiegs der Strecke eigentlich unmöglich war. Mein Herz raste und ich suchte verzweifelt nach einem
Ausweg. Auf dem S-Bahnhof stand ein abfahrbereiter Zug. Sollte ich nun Pascal stehen lassen und Benjamin alleine
hinterherlaufen oder riskieren, dass Benjamin den Zug erreicht und womöglich einsteigt? Inzwischen weinte mein
kleiner Sohn im Kinderwagen und ich schwitzte Blut und Wasser vor Angst. Kurz vor dem S-Bahnhof ließ ich Pascal
dann doch stehen, weil ich ihn hier vom Bahnsteig aus sehen konnte. Ich rannte die Treppen hinunter, durch die
Unterführung hindurch und während ich die Treppe zum Bahnsteig hochhastete, hörte ich, wie oben der Zug abfuhr.
Ich konnte nicht mehr klar denken. Wo war Benjamin? Ich hatte ihn nicht auf der Treppe gesehen. Wilde
Horrorszenarien rasten jetzt durch meinen Kopf. Zu meiner großen Erleichterung hörte ich in diesem Moment einen
verzweifelten Aufschrei, den ich klar meinem Sohn zuordnen konnte. Als ich oben ankam, fand ich ihn völlig aufgelöst
und tränenüberströmt am oberen Ende der Auffahrt für Kinderwagen, Rollstuhlfahrer und Fahrräder stehend vor. Er
war diese betonierte Schräge hoch gelaufen, so wie wir es sonst normalerweise auch tun. Diese wenigen Sekunden,
die er dafür länger benötigt hatte, reichten glücklicherweise aus, damit er den Zug nicht mehr rechtzeitig erreichen
konnte. Wie froh war ich in diesem Moment, dass er nicht auf die Idee gekommen war, die Treppe zu nehmen. Ich
schnappte mir das schreiende Bündel und rannte wieder zurück - die Treppen hinunter, durch den Durchgang, die
Treppen wieder hinauf – zu Pascal, der immer noch ängstlich weinte. Ich war so unglaublich froh, dass Benjamin
nichts passiert war. Wortlos nahm ich meine Kinder in die Arme und weinte vor Erleichterung mit, bis wir uns alle
langsam wieder beruhigten. *
* Auszug aus „Mami, ich habe eine Anguckallergie“, Engelsdorfer Verlag, S. 134 f.