Schlafen bei Autismus - zufrieden in Hypnos Armen?
© Inez Maus 2014–2024
Pünktlich zur Ferienzeit erhalte ich wieder E-Mails, bei denen beispielsweise „Urlaub mit autistischem Kind“ in der
Betreffzeile steht. Zentrales Anliegen derartiger Nachrichten sind meist Fragen wie die folgenden: „Ich habe vor, mit
meinem frühkindlichen Autisten eine Fernreise zu machen und meine Gedanken kreisen darum, wie es im Flieger
wird. Gibt es ein Notfallmedikament, falls es schwierig wird?“ Oder: „In unserem Urlaub wollen wir keinen Ärger, wenn
unser autistisches Kind nachts nicht schlafen kann und laut wird. Mit welchem Medikament können wir es beruhigen?“
Um es vorwegzunehmen: Ich werde in diesem Beitrag keine Empfehlungen für Medikamente, die autistische Kinder
beruhigen oder zum Einschlafen bringen, geben, denn ich bin keine Ärztin. Dieser Artikel beschäftigt sich mit den
möglichen Schlafproblemen autistischer Kinder und dem Umgang damit – auch in nichtalltäglichen Situationen, denn
Hypnos, der griechische Gott des Schlafes, scheint zumindest bei autistischen Kindern seine Fähigkeit – Menschen
und Götter in den Tiefschlaf zu versetzen – nicht vollständig anwenden zu können.
Viele autistische Kinder (und auch Jugendliche sowie Erwachsene) haben Schlafprobleme, die sich verschieden
äußern können. Am häufigsten treten Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen sowie eine sehr kurze
Gesamtschlafzeit und ein frühes Aufwachen auf. Im Gegensatz zu nicht-autistischen Kindern nehmen die
Schlafprobleme bei autistischen Kindern allerdings nicht oder nur sehr viel langsamer ab, wenn sie älter werden. Bei
autistischen Jugendlichen und Erwachsenen kann das Einschlafen erschwert sein, weil Einschlafen bedeutet, dass
die Kontrolle abgegeben werden muss und dass man nicht weiß, was beim Aufwachen passiert. Die Schlafprobleme
eines autistischen Kindes betreffen aber nicht nur das Kind selbst, sondern wirken sich meist auf die gesamte Familie
aus. Auch Benjamin, meinen autistischen Sohn, plagen Zeit seines Lebens Schlafprobleme, die sich in Intensität und
Ausprägung zwar verändern, aber wohl nie ganz verschwinden werden.
In seiner Kindheit sah das dann beispielsweise so aus:
Da Benjamin seit einigen Wochen endlich allein in seinem eigenen Bett schlief, kam er oft nachts aus dem Bett,
manchmal weinend, oft verstört oder verängstigt, und musste von uns getröstet und wieder ins Bett gebracht werden.
Warum sein Nachtschlaf so zerrissen war, konnte er uns immer noch nicht mitteilen. Auch das Einschlafen dauerte
nach wie vor extrem lange, wobei er in dieser Zeit rhythmisch an die Wand klopfte oder auf der Tapete
Kratzgeräusche produzierte. Vor dem eigentlichen Zubettgehen schaltete er zwanghaft in der ganzen Wohnung alle
Lichter mehrfach ein und wieder aus […]. Vielleicht vergewisserte er sich auf diese Art und Weise, dass die Lichter in
der Wohnung auch funktionierten, damit er bei seinen nächtlichen Rundgängen keine böse Überraschung erleben
würde.*
Bevor Benjamin allein in seinem eigenen Bett schlief, teilte er sich ein Bett mit seinem jüngeren Bruder. Beide Kinder
haben dies freiwillig getan und von der Nähe des anderen profitiert. Mit Benjamins Eintritt in die Vorschule lösten sie
ihr Schlafbündnis ebenfalls freiwillig auf. Das gemeinsame Schlafen von Kindern in direkter Nähe von
Bezugspersonen wird als Co-Sleeping bezeichnet und von vielen Fachpersonen als Schlafproblem betrachtet. Die
Bezugsperson ist beim Co-Sleeping allerdings seltener ein Geschwisterkind, sondern meist die Mutter. Das starke
Bedürfnis einiger autistischer Kinder nach einem Schlafpartner hat seine Ursachen vermutlich in Angstzuständen, die
in der Nacht auftreten, oder darin, dass sie nicht vermögen, sich selbst zu beruhigen. Diese Kinder profitieren dann
von den Taktvorgaben durch die regelmäßige Atmung des Co-Schläfers. Wenn Co-Sleeping bei sehr jungen
autistischen Kindern nicht als Problem betrachtet wird, sondern als eine natürliche Schlafvariante, dann kann damit
ein Teil der Schlafprobleme des autistischen Kindes abgemildert werden, ohne dass die Eltern dabei permanent ein
schlechtes Gewissen haben. In diesem Fall kann der Erholungsfaktor aller Beteiligten steigen.
Unabhängig davon, ob gemeinsames Schlafen praktiziert wird oder nicht, gibt es aber viele weitere Möglichkeiten, um
das Ein- und Durchschlafen eines autistischen Kindes zu verbessern. Einschlafprobleme von autistischen Kindern
korrelieren fast immer mit der Aufregung des Tages, wobei mit Aufregung keineswegs nur Ärger, Angst, Anspannung,
Überforderung oder Stress gemeint ist, sondern alles, was von der üblichen Tagesroutine abweicht. So können auch
eine gelungene Geburtstagsfeier oder ein angenehmer Besuch, der sich jedoch recht kurzfristig angemeldet hat, zu
massiven Schlafproblemen führen. Wenn Eltern sich auf eine unruhige Nacht einstellen und die Nachtschicht
aufteilen, gelingt es vielleicht, das positive Erlebnis des Tages nicht vom Ablauf der Nacht trüben zu lassen.
An ganz gewöhnlichen Tagen ist es ratsam, den Abend ruhig ausklingen zu lassen und das Zubettgehen mit Ritualen
zu unterstützen. Rituale schaffen durch ihre Vorhersehbarkeit und damit Wiedererkennbarkeit ein vertrautes Gefühl,
was zum Beruhigen beiträgt. Wenn es Eltern gelingt, diese mit dem Kind verbrachte Zeit – auch wenn sie sich mehr
oder weniger stark ausdehnt – zu genießen und nicht ständig auf die Uhr zu schauen, dann werden sie entspannter,
was sich wiederum beruhigend auf das autistische Kind auswirken kann.
Zu den abendlichen Ritualen eines autistischen Kindes kann auch gehören, dass für die Ausführung bestimmter
Handlungen viel Zeit benötigt wird, beispielsweise wenn Kissen, Decke, Plüschtiere in die richtige Position gebracht
werden (müssen) – und wenn das Kind dann auf die Toilette muss, beginnt das Ordnen danach von vorn. Ein
Unterbrechen dieser Handlungen löst in der Regel eine Stressreaktion aus, die das Einschlafen gänzlich verhindert.
Langfristig lässt sich oft mit Verhandlungsgeschick eine Lösung finden, bei der sich zum Beispiel nur jeweils ein oder
zwei Plüschtiere im Bett befinden, die anderen dagegen in Sichtweite auf einem Regal. In abgesprochenen Abständen
werden die Kuscheltiere getauscht, sodass jedes einmal an die Reihe kommt.
Da viele autistische Kinder Wahrnehmungsbesonderheiten aufweisen, kann eine reizarme Schlafumgebung erheblich
zu einem besseren Schlafergebnis beitragen. Hier lassen sich allerdings keine allgemeinen Hinweise geben, da die
sensorischen Hypersensibilitäten in allen Bereichen der Wahrnehmung auftreten und sehr verschieden ausgeprägt
sein können. Einige autistische Kinder wollen/müssen in völliger Dunkelheit schlafen, aber die meisten fürchten sich
vor der Dunkelheit und benötigen eine nächtliche Lichtquelle.
Ob das eigene autistische Kind zu den vielen autistischen Kindern mit einem geringen Schlafbedürfnis gehört, lässt
sich mithilfe eines Schlafprotokolls herausfinden. Dadurch kann verhindert werden, dass versucht wird, das autistische
Kind zum Schlafen zu bewegen, wenn es gar nicht müde ist. Unnötige Machtkämpfe lassen sich so vermeiden. Meist
ist es jedoch notwendig, dass sich Eltern mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr autistisches Kind dauerhaft erst
sehr spät ins Bett geht oder sehr früh aufwacht und betreut werden muss.
Autistischen Kindern, die das Jugendalter erreicht haben, können verschiedene Mittel und Methoden angeboten
werden, um den Schlaf zu verbessern. Dazu gehören unter anderem das Meditieren, das Hören beruhigender Musik,
der Verzehr oder das Vermeiden bestimmter Lebensmittel am Abend, die Benutzung von Ohrstöpseln oder das
Erlernen von Entspannungstechniken.
Wenn alle Methoden, den Schlaf zu verbessern, nicht die gewünschte Wirkung zeigen, besteht noch die Möglichkeit,
Medikamente zum Einsatz zu bringen. Dies sollte immer in Absprache mit einem Arzt geschehen, denn einerseits
benötigen autistische Menschen generell oft niedrigere Dosen als allgemein üblich und andererseits haben auch
zugelassene Medikamente Nebenwirkungen. Bei Einsatz der üblichen Melatonin-Präparate wurden bei autistischen
Kindern Benommenheit, Kopfschmerzen und Tagesmüdigkeit beobachtet.
Eltern, die sich entscheiden, für besondere Situationen wie Flugreisen oder den Urlaub generell Medikamente zum
Einsatz zu bringen, sollten dies auf jeden Fall in Absprache mit dem Arzt des Kindes tun. Weiterhin ist es wichtig, das
entsprechende Medikament im Vorfeld bereits einmal zu testen, um zu sehen, ob es die gewünschte Wirkung zeigt
und welche Nebenwirkungen es hat.
Eine gute Vorbereitung des autistischen Kindes auf das kommende Ereignis mit Fotos, Filmen, Informationen …
vermag auf jeden Fall dazu beizutragen, einige Probleme im Vorfeld abzuwenden.
Ich wünsche allen meinen Leserinnen und Lesern entspannte Urlaubstage.
* Auszug aus „Mami, ich habe eine Anguckallergie“, Engelsdorfer Verlag, S. 247 f.