Gute Vorsätze zum neuen Jahr
© Inez Maus 2014–2024
Heute ist Silvester. Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende zu und ich hoffe, dass es für viele meiner Leserinnen und
Leser ein gutes Jahr war. Der Jahresausklang wird unterschiedlich gefeiert, aber oft spielen laute Musik, alkoholische
Getränke, Feuerwerk und Böller sowie reichliches und mehr oder weniger ungesundes Essen dabei eine Rolle – und
gute Vorsätze.
Diese Aufzählung zeigt bereits, dass Silvester für viele autistische Menschen mit Stress verbunden sein kann oder
aber in einer bedeutend reizärmeren Variante gefeiert wird. Jedoch lassen sich nicht alle Reize minimieren –
besonders die, die von außen eindringen, sind wenig beeinflussbar. Knallkörper und Böller erweisen sich für die
meisten autistischen Menschen als Qual, obwohl viele, mit denen ich gesprochen habe, einem Feuerwerk durchaus
positive Gefühle entgegenbringen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass das fehlende Feuerwerk im Pandemiejahr
2020 mit gemischten Gefühlen von autistischen Menschen aufgenommen wurde. Jahrelang hatte ich mir gewünscht,
dass zu Silvester weniger Knaller gezündet werden, weil die Geräuschbelastung für Benjamin, meinem autistischen
Sohn, schwer zu ertragen ist. Als dies aber der Fall war, fand er den Zustand „gespenstisch“ und er wünschte sich die
„Normalität“ zu Silvester.
Für viele Menschen gehören gute Vorsätze zu den Ritualen des Jahreswechsels. Einerseits eignet sich eine
Änderung (bspw. der Jahreszahl) immer gut, um Änderungen im eigenen Leben anzustoßen, sprich bestimmte Dinge
zu verbessern. Die Weihnachtszeit trägt dazu bei, dass sehr häufige gute Vorsätze darin bestehen, mehr Sport zu
treiben, sich gesünder zu ernähren oder weniger Geld auszugeben. Andererseits werden gute Vorsätze in der
Silvesternacht auch lediglich als Partyjoke verwendet, das heißt, dass diejenigen, die sie äußern, diese von
vornherein nicht ernst meinen. Ein Beispiel hierfür wäre, mit anderen Personen anzustoßen und dabei mit einem
verschmitzten Lächeln zu äußern, dass man im kommenden Jahr auf jeden Fall weniger trinken werde.
Beide Formen von guten Vorsätzen können autistischen Menschen Schwierigkeiten bereiten. Bei der letztgenannten
Variante erschließt sich ihnen möglicherweise nicht, warum die trinkende Person nicht sofort auf den Alkohol
verzichtet, wenn sie doch offenbar damit aufhören oder weniger davon konsumieren möchte. Oder umgekehrt: Es
erschließt sich ihnen nicht, warum man eine solche Äußerung tätigt, wenn man gar nicht vorhat, etwas am eigenen
Alkoholkonsum zu ändern.
Gute Vorsätze, die wirklich dazu dienen sollen, etwas im eigenen Leben zu ändern, überfordern autistische Menschen
sehr rasch. Sie haben irgendwann als Ritual gelernt, mit guten Vorsätzen in ein neues Jahr zu gehen. Sie haben aber
meist nicht gelernt, wie man gute Vorsätze so gestaltet, dass sich auch Erfolgserlebnisse einstellen. So kommt es
häufig vor, dass autistische Menschen sich Dinge vornehmen, die sie nicht oder nur sehr schwer erreichen können.
Oft liegt es auch daran, dass sie sich beim Formulieren ihrer Vorsätze an nichtautistischen Menschen orientieren. Das
führt häufig dazu, dass sie in ihrem außerhäuslichen Alltag versuchen, noch mehr zu maskieren, und dadurch ihre
Leistungsfähigkeit sinkt. Ein Versagensgefühl ist damit vorprogrammiert.
Handelt es sich um Dinge wie mehr sportliche Betätigung oder eine gesündere Ernährung bestehen die
Schwierigkeiten darin, einen Plan zu erstellen, der erreichbare und bei Erfolg steigerbare Ziele enthält, damit ein
Erfolgserlebnis entsteht, dass zum Weitermachen motiviert. Ein mir bekannter autistischer junger Mann, der sich
gesünder ernähren wollte, beschloss vor einigen Jahren sich ab dem Neujahrstag vegan zu ernähren, hatte aber so
gut wie keine geeigneten Lebensmittel in seinem Kühlschrank. Hätte er das Vorhaben etwas früher mit anderen
Personen besprochen, wäre ihm der dieser Erkenntnis folgende Zusammenbruch erspart geblieben.
Ich finde es daher enorm wichtig, mit autistischen Menschen über solch scheinbar harmlose Dinge wie „gute Vorsätze
zum neuen Jahr“ rechtzeitig zu sprechen und bei Bedarf Unterstützung bei der Umsetzung anzubieten.
Wenn autistische Menschen sich gute Vorsätze für das neue Jahr vornehmen, dann meinen sie das in der Regel ernst
und geben dieses Vorhaben nicht einige Tage oder Wochen nach Jahresbeginn wieder auf. Viele nicht-autistische
Menschen besitzen die „Fähigkeit“, sich von ihren guten Vorsätzen bei Umsetzungsschwierigkeiten jeglicher Art zu
verabschieden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben oder Versagensgefühle zu entwickeln. Autistischen
Menschen gelingt dies oft nicht und damit gute Vorsätze für das neue Jahr nicht in einer Krise münden, sollten sie
nicht auf die sprichwörtlich leichte Schulter genommen werden.
Möglicherweise benötigen autistische Menschen aber auch den deutlichen Hinweis, dass man ein neues Jahr auch
ohne gute Vorsätze beginnen kann!
Abschließen möchte ich meinen Beitrag mit dem Bericht einer autistischen Frau über ihre guten Vorsätze. Als
Jugendliche bekam sie von ihren Eltern häufig gesagt, dass sie in der Schule faul sei und dass sie ohne diese
Faulheit die guten Schulnoten ihrer älteren Schwester erreichen könne. Genervt durch die Aussagen ihrer Eltern gab
sie eines Tages bei der obligatorischen Familienbefragung an Silvester nach guten Vorsätzen an, dass sie die
Schulnoten ihrer Schwester erreichen werde. Damals besuchte sie die siebte Klasse. Im folgenden Jahr äußerte sie,
dass sie die Schwester überholen werde. Beides erreichte sie, weil sie einerseits mit den guten Vorsätzen eine Regel
geschaffen hatte, die sie zum Lernen zwang und die sie auf keinen Fall brechen wollte, und andererseits über
genügend Ressourcen verfügte, um mehr Zeit für das Lernen nutzen zu können.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern ein glückliches und friedvolles Jahr 2025!
Ihre