Schulbegleitung
© Inez Maus 2014–2025
Vor einigen Tagen erzählte eine Fachperson, die auch Mutter eines autistischen Kindes ist, während einer von mir
durchgeführten Fortbildung, dass endlich die Schulbegleitung für ihr Kind genehmigt worden war. Diese Nachricht
erreichte sie in der Mittagspause.
Diese Begebenheit zeigt einerseits, wie dringend benötigt Schulbegleitung für autistische Kinder wird, und
andererseits, wie schwierig es ist, eine Schulbegleitung genehmigt zu bekommen, denn wäre Schulbegleitung
etwas Selbstverständliches, dann hätte es die eben erwähnte Frau nicht sofort und mit sichtlicher Erleichterung in
diesem Rahmen erzählt.
Schulbegleitung zählt zu den Nachteilsausgleichen. Im schulischen Kontext werden darunter alle Maßnahmen
zusammengefasst, die dazu dienen, Kindern mit Beeinträchtigungen und Behinderungen einen Schulbesuch zu
ermöglichen, ohne dass ihnen Nachteile beim Lernen oder bei Prüfungen aufgrund ihrer besonderen Situation
entstehen. Bezeichnungen für Schulbegleitung, Wege der Beantragung und Möglichkeiten zur Finanzierung sind
von Bundesland zu Bundesland verschieden, aber eine gewisse Knappheit an Personen, die Schulbegleitung
qualifiziert ausführen, scheint es fast überall zu geben.
Diesem Mangel versucht man vielerorts mit einer sogenannten Pool-Lösung anstatt einer 1:1-Begleitung zu
begegnen. Aber eignet sich eine Pool-Lösung für autistische Kinder und Jugendliche?
Pool-Lösung bedeutet, dass eine integrative oder inklusive Schule über eine gewisse Anzahl an Fachkräften
verfügt, die die Begleitung aller integrierten oder inkludierten Schüler und Schülerinnen gemeinsam übernehmen.
Vereinfacht gesagt, kümmern sich die Fachkräfte um alle Lernenden mit speziellem Förderbedarf, die gerade Hilfe
benötigen.
Um Pool-Lösungen einzuführen, werden oft die Vorteile einer solchen Lösung mit den Nachteilen einer 1:1-
Begleitung verglichen. Um eine fundierte Entscheidung für das eine oder andere treffen zu können, sollten aber
Vorteile des einen mit den Vorteilen des anderen verglichen werden, was ich in diesem Artikel tun werde.
Pool-Lösungen haben den Vorteil, dass sie Stigmatisierung und Ausgrenzung minimieren, eine große
Versorgungssicherheit bieten können und das Erkennen von Anlagen sowie Potenzialen fördern.
Stigmatisierung und Ausgrenzung werden verringert, weil sich die Schulbegleitung um mehrere Lernende kümmert.
Somit fallen die einzelnen Schüler oder Schülerinnen, die Unterstützung benötigen, weniger auf. Beides lässt sich
aber auch bei einer 1:1-Betreuung gering halten oder verringern, wenn mit der Klasse (eventuell auch mit den
Eltern) und dem Lehrpersonal offen über die Situation geredet wird: Warm wird die Schulbegleitung benötigt?
Welche Aufgaben hat sie? Was darf sie nicht tun?
Die Versorgungssicherheit ist bei einer Pool-Lösung auf jeden Fall höher als bei einer 1:1-Betreuung, weil sich in
Urlaubs- oder Krankheitsfällen die Mitarbeitenden des Pools zumindest teilweise vertreten können. Autistische
Kinder, die eine 1:1-Betreuung haben, können oft die Schule an Tagen, an denen die Schulbegleitung ausfällt, nicht
besuchen und versäumen somit unverschuldet Lerninhalte. Allerdings haben besonders autistische Kinder im
Grundschulalter oft große Probleme mit wechselnden Personen, da dies Veränderungen sind, die sie nur schwer
oder gar nicht auszuhalten vermögen. Somit kann es sein, dass die Versorgungssicherheit einer Pool-Lösung für
diese Kinder überhaupt keine Vorteile bringt.
Das Erkennen von Anlagen und Potenzialen gelingt zweifelsohne besser, wenn mehrere erfahrene Personen
Umgang mit dem entsprechenden Kind haben. Bei autistischen Kindern spielen auch hier weitere Faktoren eine
Rolle. Zum einen müssen die begleitenden Personen über Grundwissen zum Thema Autismus verfügen, um in der
Lage zu sein, mittels kreativer Fördermethoden die Stärken dieser Kinder in den Schulalltag einfließen zu lassen.
Zum anderen gelingt dies wiederum nur, wenn das Kind nicht durch Veränderungsängste gelähmt oder durch
wechselnde Personen in einen Zustand der Reizüberflutung gerät.
Als negative Auswirkungen einer 1:1-Betreuung werden in der Regel genannt, dass die begleiteten Kinder
Hilflosigkeit erlernen, über eine mangelnde Eigeninitiative verfügen und ein negatives Selbstbild entwickeln. Die
eben genannten Dinge treten aber nur ein, wenn die Schulbegleitung ihren Job nicht richtig macht, denn ein
wichtiger Aspekt von Schulbegleitung (und jeglicher anderer Hilfe, beispielsweise im Alltag) ist, genau so viel
Unterstützung zu geben, wie benötigt wird – das bedeutet, so wenig Unterstützung wie möglich. Die Unterstützung,
die gegeben wird, muss dabei regelmäßig auf ihre Notwendigkeit überprüft werden und gegebenenfalls
zurückgenommen werden.
Die positiven Auswirkungen einer 1:1-Betreuung im Schulalltag zumindest von Kindern im Grundschulalter sind
nicht von der Hand zu weisen. Diese Form von Begleitung verhindert nicht nur Veränderungsängste und
Reizüberflutungssituationen, sondern ermöglicht den Kindern auch kommunikative und soziale Fortschritte, da sie
diese Interaktionen im Zusammenspiel mit der vertrauten und damit in gewissem Maße in ihrem Handeln
vorhersehbaren Schulbegleitung üben und trainieren können.
Mein autistischer Sohn wurde nach dem Verlassen der Förderschule in seiner Grundschulzeit stundenweise von
einer Schulhelferin begleitet. In Berlin ist Schulhelfer/in die Bezeichnung für Schulbegleitung – eine, wie ich finde,
unglücklich gewählte Formulierung. Die positiven Auswirkungen diese Maßnahme sahen folgendermaßen aus:
Bis auf wenige Ausnahmen zeigten sich die Lehrer an Benjamins Grundschule aufgeschlossen, lernbereit und
kooperativ, was wohl zu einem großen Teil das Verdienst der engagierten Schulhelferin unseres Sohnes war.
Die Schulhelferin klärte die Schüler der Klasse über Benjamins Besonderheiten sowie über ihre Rolle auf und war
sehr verwundert darüber, dass die Klassenkameraden unseres Sohnes keine Fragen zu diesem Thema hatten.
In den Stunden, in denen die Schulhelferin nicht anwesend war, kam es oft zu Problemen. […] In einer
Vertretungsstunde im Fach Deutsch verstand unser Sohn eine Aufgabenstellung nicht und kam auch nicht auf die
Idee, bei der Vertretungslehrerin nachzufragen, was ihm eine Sechs einbrachte. Tief bestürzt fand ihn seine
Schulhelferin am Beginn der folgenden Stunde vor. Sie klärte das Missverständnis auf, worauf Benjamin eine
erneute Chance bekam, die Aufgabe richtig löste und die Sechs in eine Eins umgewandelt wurde. Ein anderes Mal
berichtete mir Benjamins Schulhelferin, dass sich unser Sohn plötzlich seit mehr als einer Woche weigerte, seine
Buntstifte zu benutzen. In einem Gespräch entlockte ich Benjamin den Grund für sein Handeln: „Na, der schwarze
Stift aus der Packung ist alle.“
Das fünfte Schuljahr startete mit der Einführung des Fachunterrichts, mit neuen Lehrern und mit einer erhöhten
Anzahl an Schulstunden, aber das stellte alles kein Problem für unseren Sohn dar, was wohl in erster Linie ein
Verdienst der Schulhelferin war. *
Eine Pool-Lösung für Schulbegleitung kann für autistische Jugendliche, die keine Schulbegleitung (mehr) wollen,
eine gute Lösung darstellen. Autistische Jugendliche werden sich ihrer Schwierigkeiten – besonders im sozialen
Bereich – mit Beginn der Pubertät zunehmend bewusst und möchten in diesem Zusammenhang durch eine
Schulbegleitung nicht noch mehr auffallen. Sie lehnen die Unterstützung, die sie meist benötigen, daher lieber ab.
Eine Pool-Lösung vermag hier wenigstens bei Bedarf Unterstützung anzubieten, ohne Ausgrenzung zu befördern.
* Zitate aus „Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln“, Maus, 2014, Engelsdorfer Verlag