Gewaltprävention
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oder die Frage:
Ist Ungeduld schon Gewalt?
© Inez Maus 2014–2025
Mein Blogbeitrag im März über Gewaltprävention hat viel Beachtung erfahren, verbunden mit der Bitte, dieses
Thema noch umfangreicher auszuführen. Eine Leserin begründete diesen Wunsch beispielsweise damit, dass sie
schrieb: „Gewaltprävention ist jetzt in aller Munde, aber kaum einer weiß so richtig, was das bedeutet und wie das
geht.“ Bei der Formulierung „in aller Munde“ musste ich natürlich sofort an autistische Menschen denken, die
entweder Schwierigkeiten mit dem Verstehen dieser Redewendung haben oder die aufgrund ihres bildlichen
Denkens eine sehr skurrile Vorstellung von dem Gesagten entwickeln könnten.
Speziell beschäftigte sich mein Blogbeitrag im März damit, dass ein Vorhandensein von Misokinesie (Abneigung
gegen sich wiederholende Körperbewegungen anderer Personen) bei den betreuenden Personen das Risiko zum
Entstehen von Gewalt in sich birgt. Mehrere Leserinnen und Leser schrieben mir daraufhin, dass wiederholte oder
unwillkürliche Körperbewegungen auch durch bestimmte Medikamente ausgelöst werden und ebenso bei anderen
Beeinträchtigungen wie beispielsweise bei ADHS vorkommen und somit das Problem, dass Bezugspersonen heftig
auf solche Bewegungen reagieren, auch im häuslichen Umfeld bestehen kann.
Besonders viel Aufmerksamkeit erfuhr die von einer autistischen Frau gestellte Frage, ob Ungeduld schon Gewalt
sei. Viele Leserinnen und Leser vertraten die Meinung, dass es jedem Menschen zustehe, gelegentlich ungeduldig
zu sein – auch im Kontext des gerade aktuellen eigenen Erlebens. Wenn Ungeduld aber dauerhaft auftritt und
impliziert, dass Menschen mit Beeinträchtigungen von betreuenden Personen bei ihren Tätigkeiten ständig
angetrieben oder beschimpft werden, obwohl die betreuenden Personen eigentlich wissen, dass diese Menschen für
die fraglichen Verrichtungen Unterstützung oder mehr Zeit benötigen, dann ist dies auf jeden Fall eine Situation, die
den Beginn von Gewalt erleichtert oder unterstützt.
Als Beispiele für Gewalt nannte ich das Fehlen von Respekt, ungewollte Körperkontakte, mangelnde
Mitbestimmung, keine Möglichkeit zum Treffen von Entscheidungen und das Ignorieren von Konflikten mit Personen,
die sich in der gleichen Situation befinden. Erwachsene Personen, die in verschiedenen Wohnformen leben und
bedauerlicherweise bereits über Gewalterfahrungen verfügen, ergänzten Folgendes: es werden persönliche Dinge
aus dem eigenen Zimmer entfernt, das Taschengeld wird nicht ausgezahlt, das Abendessen wird verweigert, die
Teilnahme an der gemeinsamen Fernsehzeit wird untersagt, der Besuch der Eltern wird unterbunden.
Dem Ausüben von Gewalt gehen meist Grenzverletzungen und Übergriffe voraus. Grenzverletzungen geschehen
manchmal auch unbeabsichtigt und sind von außen betrachtet nicht schwerwiegend. Wenn sie als solche erkannt
werden, wird meist versucht, sie mit einer Entschuldigung wiedergutzumachen. Übergriffe sind Handlungen, die
massiver als Grenzverletzungen sind, in der Regel vorsätzlich erfolgen, aber strafrechtlich noch nicht relevant sind.
Personen, die übergriffig handeln, tun dies meist aus einem falschen Verständnis ihrer Aufgaben, wenn zum Beispiel
erwachsene Personen mit bestimmten Einschränkungen wie kleine Kinder behandelt werden. Daher lehnen diese
Personen es ab, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Strafrechtlich relevante Gewalt umfasst
Handlungen, die vorsätzlich oder im Affekt ausgeführt werden und der betroffenen Person Schaden zufügen. Dazu
zählt auch eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Gewaltschutzkonzepte sollen durch Aufklärung über
Entstehungsmechanismen und Anleitung zum Handeln für das Thema Gewalt sensibilisieren und dazu führen, dass
Vorläufer von Gewalt als solche erkannt und abgebaut werden und Gewalt gar nicht erst entsteht.
Zu den Grenzverletzungen zählt beispielsweise, wenn die betreuende Person alle weiblichen Klienten mit „Na, du
Süße“ und die männlichen mit „Hallo, mein Großer“ anredet. Diese unpersönlichen Anredeformen sind nicht nur
erniedrigend in einem Umfeld, in dem sich alle Personen namentlich kennen und über längere Zeit miteinander zu
tun haben, diese konkreten Formulierungen haben auch einen unterschwelligen sexuellen Inhalt, da solche
Formulierungen üblicherweise in Paarbeziehungen verwendet werden. Autistische Menschen, die oft
Schwierigkeiten mit einer nicht namentlichen Anrede haben, reagieren allerdings auf solche Ansprachen meist nicht,
weil sie sich durch nicht namentliche Anredeformen aufgrund ihrer autismustypischen Besonderheiten nicht
angesprochen fühlen. Zählt diese Anredeform in diesem speziellen Kontext dann auch als Grenzverletzung oder
nicht?
In Gewaltschutzkonzepten wird als Mittel, um Mitbestimmung zu gewährleisten, oft vorgeschlagen oder gefordert,
dass den zu betreuenden Menschen in jeder geeigneten Situation mehrere Auswahlmöglichkeiten angeboten
werden. Dieses Mittel kann aber autistische Menschen, die oft große Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu
treffen, in erheblichen Stress versetzen. Daher ist es nötig, Gewaltschutzkonzepte etwas differenzierter
auszuarbeiten.
Gerade im Bereich Autismus kann es zudem bei vielen Handlungen hilfreich sein, die Frage zu stellen, warum die
betreute Person bestimmte Dinge tut. Mir wurde eine Situation beschrieben, in der ein autistischer junger Mann, der
in einer Werkstatt (WfbM) arbeitet, „aus Langeweile mit Korken schnipst“, anstatt sie in Kästen zu sortieren.
Verbunden damit war die Frage, wie man das unterbinden könne. Die Interpretation, dass der junge Mann dies aus
Langeweile tut, ist zum einen dem Erlebniswissen der betreuenden Person geschuldet, zum anderen wird damit die
(falsche) Richtung des Umgangs mit dieser Situation vorgegeben. Wie sich herausstellte, schnipste der junge Mann
die Korken in eine bestimmte Ecke des Raumes, weil er von den Reizen an seinem Arbeitsplatz überfordert war und
auf diese Art und Weise versuchte, mit der Reizüberflutung umzugehen.
Gewaltprävention ist und bleibt ein wichtiges Thema, welches für alle Personen relevant ist, die mit
betreuungsbedürftigen Personen beruflich oder privat in Kontakt stehen. Gewaltprävention sollte immer die
speziellen Besonderheiten der jeweiligen betreuten Person im Blick haben. Bewohnerschaftsräte in
Wohneinrichtungen und Mitarbeiterräte in der WfbM tragen dazu bei, die Interessen der betreuten Personen zu
vertreten und sie zu ermächtigen, sich selbst zu vertreten.