Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 31. Mai 2025
Gewaltprävention oder die Frage: Ist Ungeduld schon Gewalt?
© Inez Maus 2014–2025
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Mein Blogbeitrag im März über Gewaltprävention hat viel Beachtung erfahren, verbunden mit der Bitte, dieses Thema noch umfangreicher auszuführen. Eine Leserin begründete diesen Wunsch beispielsweise damit, dass sie schrieb: „Gewaltprävention ist jetzt in aller Munde, aber kaum einer weiß so richtig, was das bedeutet und wie das geht.“ Bei der Formulierung „in aller Munde“ musste ich natürlich sofort an autistische Menschen denken, die entweder Schwierigkeiten mit dem Verstehen dieser Redewendung haben oder die aufgrund ihres bildlichen Denkens eine sehr skurrile Vorstellung von dem Gesagten entwickeln könnten. Speziell beschäftigte sich mein Blogbeitrag im März damit, dass ein Vorhandensein von Misokinesie (Abneigung gegen sich wiederholende Körperbewegungen anderer Personen) bei den betreuenden Personen das Risiko zum Entstehen von Gewalt in sich birgt. Mehrere Leserinnen und Leser schrieben mir daraufhin, dass wiederholte oder unwillkürliche Körperbewegungen auch durch bestimmte Medikamente ausgelöst werden und ebenso bei anderen Beeinträchtigungen wie beispielsweise bei ADHS vorkommen und somit das Problem, dass Bezugspersonen heftig auf solche Bewegungen reagieren, auch im häuslichen Umfeld bestehen kann. Besonders viel Aufmerksamkeit erfuhr die von einer autistischen Frau gestellte Frage, ob Ungeduld schon Gewalt sei. Viele Leserinnen und Leser vertraten die Meinung, dass es jedem Menschen zustehe, gelegentlich ungeduldig zu sein – auch im Kontext des gerade aktuellen eigenen Erlebens. Wenn Ungeduld aber dauerhaft auftritt und impliziert, dass Menschen mit Beeinträchtigungen von betreuenden Personen bei ihren Tätigkeiten ständig angetrieben oder beschimpft werden, obwohl die betreuenden Personen eigentlich wissen, dass diese Menschen für die fraglichen Verrichtungen Unterstützung oder mehr Zeit benötigen, dann ist dies auf jeden Fall eine Situation, die den Beginn von Gewalt erleichtert oder unterstützt. Als Beispiele für Gewalt nannte ich das Fehlen von Respekt, ungewollte Körperkontakte, mangelnde Mitbestimmung, keine Möglichkeit zum Treffen von Entscheidungen und das Ignorieren von Konflikten mit Personen, die sich in der gleichen Situation befinden. Erwachsene Personen, die in verschiedenen Wohnformen leben und bedauerlicherweise bereits über Gewalterfahrungen verfügen, ergänzten Folgendes: es werden persönliche Dinge aus dem eigenen Zimmer entfernt, das Taschengeld wird nicht ausgezahlt, das Abendessen wird verweigert, die Teilnahme an der gemeinsamen Fernsehzeit wird untersagt, der Besuch der Eltern wird unterbunden. Dem Ausüben von Gewalt gehen meist Grenzverletzungen und Übergriffe voraus. Grenzverletzungen geschehen manchmal auch unbeabsichtigt und sind von außen betrachtet nicht schwerwiegend. Wenn sie als solche erkannt werden, wird meist versucht, sie mit einer Entschuldigung wiedergutzumachen. Übergriffe sind Handlungen, die massiver als Grenzverletzungen sind, in der Regel vorsätzlich erfolgen, aber strafrechtlich noch nicht relevant sind. Personen, die übergriffig handeln, tun dies meist aus einem falschen Verständnis ihrer Aufgaben, wenn zum Beispiel erwachsene Personen mit bestimmten Einschränkungen wie kleine Kinder behandelt werden. Daher lehnen diese Personen es ab, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Strafrechtlich relevante Gewalt umfasst Handlungen, die vorsätzlich oder im Affekt ausgeführt werden und der betroffenen Person Schaden zufügen. Dazu zählt auch eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Gewaltschutzkonzepte sollen durch Aufklärung über Entstehungsmechanismen und Anleitung zum Handeln für das Thema Gewalt sensibilisieren und dazu führen, dass Vorläufer von Gewalt als solche erkannt und abgebaut werden und Gewalt gar nicht erst entsteht. Zu den Grenzverletzungen zählt beispielsweise, wenn die betreuende Person alle weiblichen Klienten mit „Na, du Süße“ und die männlichen mit „Hallo, mein Großer“ anredet. Diese unpersönlichen Anredeformen sind nicht nur erniedrigend in einem Umfeld, in dem sich alle Personen namentlich kennen und über längere Zeit miteinander zu tun haben, diese konkreten Formulierungen haben auch einen unterschwelligen sexuellen Inhalt, da solche Formulierungen üblicherweise in Paarbeziehungen verwendet werden. Autistische Menschen, die oft Schwierigkeiten mit einer nicht namentlichen Anrede haben, reagieren allerdings auf solche Ansprachen meist nicht, weil sie sich durch nicht namentliche Anredeformen aufgrund ihrer autismustypischen Besonderheiten nicht angesprochen fühlen. Zählt diese Anredeform in diesem speziellen Kontext dann auch als Grenzverletzung oder nicht? In Gewaltschutzkonzepten wird als Mittel, um Mitbestimmung zu gewährleisten, oft vorgeschlagen oder gefordert, dass den zu betreuenden Menschen in jeder geeigneten Situation mehrere Auswahlmöglichkeiten angeboten werden. Dieses Mittel kann aber autistische Menschen, die oft große Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen, in erheblichen Stress versetzen. Daher ist es nötig, Gewaltschutzkonzepte etwas differenzierter auszuarbeiten. Gerade im Bereich Autismus kann es zudem bei vielen Handlungen hilfreich sein, die Frage zu stellen, warum die betreute Person bestimmte Dinge tut. Mir wurde eine Situation beschrieben, in der ein autistischer junger Mann, der in einer Werkstatt (WfbM) arbeitet, „aus Langeweile mit Korken schnipst“, anstatt sie in Kästen zu sortieren. Verbunden damit war die Frage, wie man das unterbinden könne. Die Interpretation, dass der junge Mann dies aus Langeweile tut, ist zum einen dem Erlebniswissen der betreuenden Person geschuldet, zum anderen wird damit die (falsche) Richtung des Umgangs mit dieser Situation vorgegeben. Wie sich herausstellte, schnipste der junge Mann die Korken in eine bestimmte Ecke des Raumes, weil er von den Reizen an seinem Arbeitsplatz überfordert war und auf diese Art und Weise versuchte, mit der Reizüberflutung umzugehen. Gewaltprävention ist und bleibt ein wichtiges Thema, welches für alle Personen relevant ist, die mit betreuungsbedürftigen Personen beruflich oder privat in Kontakt stehen. Gewaltprävention sollte immer die speziellen Besonderheiten der jeweiligen betreuten Person im Blick haben. Bewohnerschaftsräte in Wohneinrichtungen und Mitarbeiterräte in der WfbM tragen dazu bei, die Interessen der betreuten Personen zu vertreten und sie zu ermächtigen, sich selbst zu vertreten.