Anguckallergie

Inez Maus
Leseprobe
Buchstabentafe l Eine Magnettafel mit einer großen Kiste Buchstaben, Zahlen und Formen wurde von mir kurzfristig angeschafft, weil ich glaubte, dass Benjamins Buchstabenverliebtheit ihm vielleicht durch gleichzeitiges Legen, Lesen und Sprechen einen Weg in unsere Sprache öffnen könnte. Meine Vorstellung, dass Kinder erst Sprechen und später Lesen und Schreiben lernen, war inzwischen verflogen, da unser Sohn trotz seiner offensichtlichen, gravierenden Sprachentwicklungs- störung ein immenses Interesse an Buchstaben und Zahlen hatte. Wie erwartet, löste die Magnettafel samt Zubehör große Begeisterung aus. Benjamin legte das unten in der linken Ecke aufgedruckte Alphabet und die Ziffern von null bis neun wieder und wieder auf seiner Tafel nach, wobei das aufgedruckte, großmaschige Karomuster ihm seine selbst gewählte Aufgabe erheblich erleichterte und ihm eine Perfektion in der Ausführung ermöglichte, die ihn hochgradig befriedigte. Die Buchstaben und Ziffern fischte er dabei völlig sicher aus der Kiste, welche zum späteren Setzen von Wörtern und kurzen Texten mehrere Buchstabensätze enthielt. Mich ließ er an seine geliebte Tafel vorerst nicht heran. Versuchte ich, Silben oder einfache Wörter zu legen oder die von ihm gerade gelegten Buchstaben zu benennen, dann verlor er die Fassung. Als Nächstes überraschte ich meinen Sohn
mit magnetischen Schildern, die die Abbildung eines Gegenstandes und den Namen dieses Gegenstandes in vier verschiedenen Sprachen enthielten. Daraufhin verblüffte mich Benjamin, weil er diese Wörter alle getreu den Karten in sämtlichen dargebotenen Sprachen fehlerfrei nachlegte. Aber er ließ kein Gespräch über das Gelegte zu und lehnte weiterhin jede Einmischung meinerseits ab. Der einzige Eingriff, den er mir erlaubte, bestand in der Anfertigung unzähliger weiterer Wort- und Bildkärtchen, welche er dann fleißig ausnahmslos nachlegte und dabei sogar akzeptierte, dass sie das entsprechende Wort in nur einer Sprache enthielten. Ich verstand einfach nicht, wieso er am Bild des Gegenstandes und am Schriftbild eines Wortes, aber nicht an dessen Klang interessiert war. Oder überforderte ihn das gleichzeitige Sehen, Legen, Hören und Sprechen? Für Benjamin war die Magnettafel ein voller Erfolg, ein neues, lieb gewonnenes, aber einsames Spiel, welches unzählige Wiederholungen zuließ, für mich eher ein Misserfolg, wenn ich die Resultate meiner Arbeit mit meinen Zielen verglich. Aber mein Sohn hatte großen Spaß damit und schaden würde ihm der wenn auch etwas eigenwillige Umgang mit Buchstaben auf jeden Fall nicht, also gönnten wir uns weiterhin diesen fast gemeinsamen Spaß: Ich zeichnete und schrieb und er legte die Wörter nach. Ohne Worte.
© Inez Maus 2014–2024