Typisch Berlin? (Fortsetzung und Schluss)
© Inez Maus 2014–2024
Vor einigen Wochen berichtete ich über ein feuchtes, aber nicht fröhliches Erlebnis, das ich in der Berliner S-Bahn
hatte. Ein Fahrgast verschüttete sein Bier, welches meine Sandalette durchtränkte. Recht unterschiedliche
Reaktionen waren die Folge.
Heute nun folgt die am Ende des Artikels angekündigte Fortsetzung, nach der sich bereits Leser erkundigt haben.
Die ausbleibende Reaktion meines Gegenübers auf das Missgeschick in der S-Bahn kann verschiedene Ursachen
haben: Er beherrscht unsere Sprache nicht, was aber nicht der Fall war, denn er redete wenige Augenblicke später
mit dem Kontrolleur deutsch. Das Ereignis könnte ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen
haben. Oder das Geschehene war ihm egal, was dem Anschein nach aber nicht zutraf. Da der Kontrolleur den Mann
aufforderte, den Wagen zu verlassen, bleibt diese Sache wohl ungeklärt.
Wenige Tage nach dem Erlebnis bat ich die Teilnehmer eines Workshops, dass sie beschreiben, wie sie sich in der
geschilderten Situation gefühlt und wie sie reagiert hätten. Die Antworten fielen höchst unterschiedlich aus:
•
Ein Teilnehmer outete sich als trockener Alkoholiker und es machte ihn sichtbar wütend, dass Leute in
Nahverkehrsmitteln, auf der Straße, in Bahnhöfen, in Parks … Alkohol trinken. Er wollte das Trinken von
Alkohol in der Öffentlichkeit verbieten und auf Lokalitäten sowie den Privatbereich beschränken.
•
Eine Lehrerin erzählte, dass sie ein sehr kleines Kind hat, welches häufig Getränke verschüttet. Dadurch
habe sie viel Verständnis für Menschen, die etwas verschütten, entwickelt – auch, weil sie ihrem Mann
ständig erklären müsse, dass dies bei kleinen Kindern normal ist.
•
An ihr früheres Partyleben erinnerte sich eine weitere Teilnehmerin. Auf dem Heimweg habe die Clique
immer noch etwas getrunken und dabei den einen oder anderen Fahrgast bekleckert, weil die
Koordination „halt nicht mehr so zielsicher war“. Die Fahrgäste hätten immer verständnisvoll reagiert.
•
Zwei Teilnehmer vertraten die Meinung, dass man nach einem harten Arbeitstag zum verdienten
Feierabend ein Bier trinken darf. Auf das Trinken in öffentlichen Verkehrsmitteln oder das Verschütten des
Bieres gingen sie nicht ein, sondern zählten Berufsgruppen auf, die nach ihrer Meinung hier
dazugehören.
•
Zu Beginn der Veranstaltung fiel mir auf, dass eine Teilnehmerin ihre Schuhe wechselte. Ebendiese Frau
erzählte, dass sie zu jedem dienstlichen Meeting und zu jeder Veranstaltung immer Schuhe zum
Wechseln dabeihat und ihr das verschüttete Bier somit keine Probleme bereitet hätte. Diesen Tipp gab
sie ausdrücklich an mich weiter.
•
Daraufhin äußerte ein Mann, dass er die Wechselschuhe unnötig findet, denn man könne es doch so
regeln, wie ich es getan hatte: beim Meeting einfach erzählen, was passiert ist.
•
Einige Teilnehmer vermieden es, über ihre mögliche Reaktion in einer derartigen Situation und die damit
verbundenen Gefühle zu reden und entfachten stattdessen eine Diskussion über Essen und Trinken in
Nahverkehrsmitteln.
•
Diese Diskussion wurde kurzerhand von einer Frau unterbrochen, die das Autofahren als Mittel der Wahl
propagierte, um all die genannten Probleme zu umgehen, und gleichzeitig den Parkplatzmangel in
Großstädten beklagte.
Ein Ereignis – viele Sichtweisen und dazugehörige Gefühle. Selbst wenn es uns nicht sofort gelingt, sämtliche
mögliche Ansichten zu benennen, so haben wir doch keine Schwierigkeiten, in diesen personenbezogenen Kontexten
die Perspektiven der beteiligten Personen zu übernehmen.
Menschen mit Autismus hingegen können derartigen situationsbedingten Perspektivwechseln oft nicht folgen. Ihnen
hilft es, wenn aktuelle soziale Situationen erklärt werden: Was bedeutet das Verhalten meines Gegenübers und
warum verhält sich mein Gegenüber so und nicht anders, welche Reaktion wird von mir erwartet und möchte oder
kann ich mich dementsprechend verhalten …
Nach dem Workshop stellte ich meinem autistischen Sohn zu Hause dieselbe Frage wie den Teilnehmern. Seine
Antwort lautete: „Ich würde in Panik geraten, weil es alles durcheinanderwirft.“ Nach einer kurzen Pause entwickelte
er den Plan, neue Socken zu kaufen, am Ort des Meetings den Fuß zu waschen und danach die Socken zu
tauschen. Die nasse Socke würde er wegwerfen. Abschließend räumte er ein, dass er in der geschilderten Situation
vermutlich aber „nicht so klar denken“ kann.
Die Vorgeschichte:
Typisch Berlin?