Typisch Berlin?
© Inez Maus 2014–2024
In der vergangenen Woche nutzte ich – wie eigentlich immer – die öffentlichen Nahverkehrsmittel, um in die Stadt zu
gelangen. Genauer gesagt die S-Bahn. Ich saß also in der Bahn und tat genau das, was die meisten Leute um mich
herum auch taten – ich schaute auf ein elektronisches Gerät. In meinem Fall war es nicht das Handy, sondern ein
Tablet, welches mir ein Buch zum Lesen darbot.
Fahrgäste stiegen ein und aus, die Sitznachbarn wechselten oft, denn es war Hauptverkehrszeit am Nachmittag.
Nach einer Weile setzte sich ein Mann mit einem Audioplayer in der einen Hand und einer offenen, aus einer
Plastiktüte herausragenden Bierflasche in der anderen Hand auf den mir gegenüberliegenden Platz. Er stellte die
Bierflasche auf dem Boden ab, entschloss sich aber einen Moment später, sie wieder zu ergreifen – vermutlich um
etwas zu trinken – und stieß die Flasche dabei um. Das Bier ergoss sich über meine linke Sandalette. Der Mann
reagierte darauf nicht, nahm die Flasche und setzte zum Trinken an.
Ziemlich frustriert nahm ich eine Packung Taschentücher aus meiner Tasche, weil ich zuerst das Ärgernis beseitigen
wollte, bevor ich mich dem Mann zuwenden würde. Gerade als ich begann, meine Sandalette zu trocknen, ertönte es
neben mir: „Die Fahrkarten bitte!“ Ich bat den Kontrolleur um einen Moment Geduld und bekam zur Antwort: „Ick hab
doch meene Zeit nich inne Lotterie jewonnen!“ Wie sich herausstellte, besaß mein Bier trinkendes Gegenüber keinen
gültigen Fahrschein und wurde deshalb aus dem Zug entfernt.
Eine Station später musste ich umsteigen. Mein biergetränkter Schuh verströmte einen nicht zu ignorierenden
Geruch, was dazu führte, dass die Wartenden auf Abstand gingen. Gleichzeitig wurde ich argwöhnisch beäugt, weil
ich zwar als Quelle des Geruches identifiziert werden konnte, aber keine Flasche in der Hand hielt. Auch meine
Kleidung – Business-Kleidung, da ich mich auf dem Weg zu einem Meeting befand – passte nicht zum Biergeruch. Im
folgenden Zug bescherte mir mein anhänglicher Geruch trotz Berufsverkehr ein leeres Viererabteil. Ich wurde
angestarrt und glaubte nach einer Weile, dass alle über mich tuscheln würden.
So schnell kann man – ohne irgendetwas getan oder nicht getan zu haben – zum Außenseiter werden!
Ich musste während dieser S-Bahn-Fahrt unwillkürlich an die unzähligen Begegnungen denken, bei denen ich
belehrt, beschimpft, ausgegrenzt, im besten Fall bemitleidet wurde, weil sich mein autistischer Sohn nicht so benahm,
wie man es in einer bestimmten Situation erwartet hatte. Ich musste daran denken, wie die Geschwister bedauert
wurden, weil sie einen solchen Bruder hatten. Und ich musste daran denken, dass niemand sah – oder sehen wollte,
dass Benjamin in den Situationen, in denen er sich „auffällig“ verhielt, durch eine vollkommene Reizüberflutung
handlungsunfähig war. Die „armen“ Geschwister hatten dies damals bereits verstanden.
Natürlich bemerkten auch die Teilnehmer des Meetings den Geruch, der allerdings mit fortschreitender Zeit nachließ,
da das Leder meiner Sandalette trocknete. Die Entstehungsgeschichte des Geruchs rief Heiterkeit hervor, bevor sich
alle ernsthaft mit dem BTHG (Bundesteilhabegesetz) beschäftigten.
Nach der Veranstaltung lud mich ein Teilnehmer schmunzelnd auf ein Bier ein, denn er fand, „das ist doch passend.“
Zu dumm, dass ich kein Bier trinke.
Nun erst kam ich dazu, darüber nachzudenken, warum mein Gegenüber in der S-Bahn so gar nicht reagiert hatte –
Fortsetzung hier.
Zum Weiterlesen:
Die fünfte Jahreszeit