Es geht mir gut …
© Inez Maus 2014–2024
… unter der Decke.
Diese Beschreibung seines Zustandes gab Benjamin, mein autistischer Sohn, vor einigen Jahren – allerdings in
umgekehrter Reihenfolge. Zuerst zeigte er auf ein visuelles Hilfsmittel, auf dem sich ein Wesen unter einer Decke
verkrochen hatte. Dann fügte er seinem Hinweis die Formulierung „Es geht mir gut“ hinzu.
Das visuelle Hilfsmittel, welches ich in der eben geschilderten Situation zum Einsatz brachte, waren die
Gefühlsmonster
©
-Karten der Gefühlsmonster GmbH. Autistische Menschen haben Schwierigkeiten mit dem
Erkennen und mit dem Ausdrücken von Gefühlen, wobei diese Schwierigkeiten im Sinne eines Nicht-Könnens und
nicht als ein Nicht-Wollen verstanden werden müssen. Um beide Fähigkeiten zu verbessern, gibt es eine Fülle an
Hilfsmitteln und Programmen.
Vieles habe ich mit Benjamin ausprobiert. Sammlungen mit Emoticons in verschiedensten Ausführungen brachten
wenig Erfolge, weil jedem Bild eine verbale Zuschreibung zugeordnet war, die dem Innenleben meines Sohnes
selten entsprach. Programme wie „FEFA“ oder „Mind Reading“ vermochte er gut zu absolvieren, aber ein Transfer
des Gelernten in die Praxis fand nicht statt. Das Abrufen der gelernten Inhalte in einer konkreten sozialen Situation
dauerte zu lange und kostete viel Energie. Zudem passte die Ausgestaltung der Beispielsituation nie auf eine
tatsächliche Situation.
Eines Tages entdeckte ich auf meiner Suche nach geeignetem Material die Gefühlsmonster
©
-Karten und es war bei
mir Liebe auf den ersten Blick. Autistische Menschen haben meist starke Veränderungsängste, was es umgebenden
Personen erschwert, etwas Neues einzuführen. Wie konnte ich diese Karten also Benjamin schmackhaft machen?
Halt – mein Sohn würde jetzt protestieren, dass er die Karten doch nicht verzehren will!
Die Frage, wie ich die Karten in die Familie eingebracht habe, wurde mir in der vergangenen Woche gerade wieder
einmal in einer Fortbildung gestellt und ich möchte sie hier beantworten. Mir kam damals aufgrund der Jahreszeit –
es war Ende November – eine Idee. Einen Weihnachtskalender, den Benjamin zusätzlich zu seinem mit
Gummibärchen gefüllten Kalender erhält, wird er nicht ablehnen, weil ihm die Rituale zur Weihnachtszeit sehr viel
bedeuten. Das Set enthält 25 Karten und somit gab es jeden Tag eine Karte im Kalender zu entdecken, am
Weihnachtstag dann zwei. Die Karten sind fortlaufend nummeriert, was sie für alle meine Kinder als
Weihnachtskalender prädestinierte. Damit sie nach dem Auspacken gut sichtbar blieben, befestigte ich sie mit
Magneten am Kühlschrank – ordentlich aufgereiht in der korrekten Reihenfolge, fünf Reihen mit je fünf Monstern. Als
ich sie nach der Weihnachtszeit entfernen wollte, protestierte Benjamin …
… und so haften sie noch heute bei uns am Kühlschrank. Die Küche ist ein zentraler Begegnungspunkt und somit
animieren die Karten immer wieder, sich je nach Verfassung oder Stimmung verbal oder nonverbal, ausführlich oder
knapp, zu zweit oder mit mehr Teilnehmern über Gefühle auszutauschen. Auf diese Art haben wir auf diesem Gebiet
alle viel voneinander gelernt – vollkommen zwanglos.
Als großen Vorteil empfinde ich, dass die Karten keine Zuschreibungen von
Zuständen enthalten. Somit bleiben alle Interpretationsmöglichkeiten offen und jedes
einzelne Monster vermag eine gewisse Bandbreite an Gefühlen abzudecken. Die
Karten ermöglichen Benjamin, einen Zugriff auf seine wahren Gefühle zu erhalten,
diese zu äußern und sich darüber mit uns auszutauschen. Das eingangs erwähnte
Monster unter der Decke (Nr. 13) wird in meinen Seminaren, die ich inzwischen für
die Gefühlsmonster GmbH zum Thema Autismus gebe, durchgängig mit Angst,
Rückzug, Unbehagen, gelegentlich auch Panik assoziiert. Dass dieses Monster auch
Schutz, Entspannung und Geborgenheit bedeuten kann, hat mich mein autistischer
Sohn gelehrt.
Möchten Sie mehr zu diesem Thema erfahren? Zum Beispiel, welche Strukturen
hilfreich sind, um die Karten im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen
einzusetzen? Oder wie die Karten dabei helfen können, Situationen kontextbezogen
zu bewerten? Die Gefühlsmonster GmbH veranstaltet in diesem Jahr eine Sommer-Akademie mit Online-Seminaren
zu verschiedenen Themen. Anmeldungen sind über die Seite der Gefühlsmonster GmbH möglich. Das Thema
Autismus unter dem Aspekt Gefühle wird von mir am 28. Juli 2020 und am 18. August 2020 vorgestellt.
Zurzeit befindet sich Benjamin im übertragenen Sinne leider nicht unter der Decke,
denn die momentane Situation bereitet ihm durch die Unsicherheit und durch
geänderte Anforderungen recht viel Stress. Sein jetziges Empfinden beschreibt er
mit einem Monster (Nr. 22), welches von Bauchschmerzen geplagt zu sein scheint.
Dieser
Blogartikel
enthält
Veranstaltungs-
hinweise in
eigener Sache
und Links zum
Kooperations-
partner.