Briefe an eine Freundin
Erster Teil
© Inez Maus 2014–2024
Das Jahr 2020 war für alle ein ereignisreiches Jahr, für die meisten allerdings nicht in dem Sinne, in dem das Wort
„ereignisreich“ üblicherweise benutzt wird. Es war ein Jahr voller Herausforderungen, Ungewissheit, Planlosigkeit und
Unsicherheit. Für einige bescherte es phasenweise Entschleunigung oder die Besinnung auf andere Werte und
Beschäftigungen.
Familien mit einem autistischen Mitglied – so wie unsere – hatten (und haben immer noch) meist mit zusätzlichen
Problemen zu kämpfen.
Es war ein Jahr, von dem viele sagen, ein Rückblick lohne sich nicht. Ich sehe das anders, denn ein Rückblick kann
auch Erkenntnisse befördern und Positives aufzeigen, das man unmittelbar in einer Krisensituation nicht
wahrgenommen hat. Viele meiner Leserinnen und Leser sehen das ähnlich, denn sie fragten mich am Jahresende,
wie es uns in diesem Jahr ergangen ist.
Um diese Frage zu beantworten, bemühe ich nicht meine Erinnerung, sondern Auszüge aus Nachrichten an eine
Freundin, die ich im Laufe des Jahres geschrieben habe. Diese Berichte werden nicht durch späteres Wissen
verfälscht.
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Januar 2020
Am letzten Wochenende des vergangenen Jahres renovierten wir mein Arbeitszimmer. Es ist noch leer, weil ich zu
viele Aufträge erledigen musste, aber ich hoffe, dass wir am Wochenende mit dem Einräumen beginnen werden.
Februar 2020
Am Wochenende wollte ich mit Benjamin die Van-Gogh-Ausstellung besuchen, weil sich herausstellte, dass ihn das
sehr interessiert. Wie so oft, ist er nicht auf die Idee gekommen, diesen Wunsch zu äußern. (Eigentlich ist „nicht auf
die Idee gekommen“ eine schlechte Umschreibung dessen, was hier vorliegt, denn es handelt sich um eine Störung
der Exekutivfunktionen.) Leider bekamen wir keine Karten mehr.
Als Ersatz habe ich mit ihm das Asisi-Panorama Pergamon und das Pergamon-Museum besucht. Dadurch, dass
Benjamin im Bachelor-Studium u. a. Geschichte und Kunstgeschichte als Nebenfächer belegt hat, war das für mich ein
sehr informationsreicher Tag. Mehrere Male sind Menschen um uns herum stehen geblieben, wenn er mir einen Mini-
Vortrag zu einem Thema gehalten hat.
März 2020
Meine Jungen sind alle im Homeoffice und der Semesterbeginn für Benjamin ist verschoben worden. Leon hat
Dienstreiseverbot und geht regulär arbeiten.
Ansonsten sind wir aber gesund und müssen irgendwie das Beste aus dieser Situation machen. Danke für den
Hinweis auf die Digital Concert Hall.
Zudem benötigt Benjamin stabile Routinen und Vorhersehbarkeit, um seinen Tag, eigentlich sein Leben zu meistern.
Die momentane, sich ständig ändernde Situation, der nicht beginnende Uni-Betrieb … zerstören seine mühsam
etablierten, Halt gebenden Routinen. Wenn dann noch der sensorische Stress durch die vermehrten und anderen
Reize hinzukommt, ist seine Kraft schnell erschöpft. Er kann nicht einfach mal zu einer anderen Zeit oder in einem
anderen Zimmer seine Hausarbeiten für die Uni schreiben oder andere Aufgaben erledigen. Wir sitzen auf einem
Pulverfass, denn er leidet unter seiner sinkenden Leistungsfähigkeit.
Ich hoffe, du hast genug alternative Lebensmittel zum Brot auf Lager oder vielleicht auch gefrorene Brötchen o. Ä. Bei
uns gibt es bereits seit zehn Tagen keine Eier bzw. wir haben keine bekommen, wenn einer von uns einkaufen war.
Nun hat Leons Kollege zehn Eier für uns besorgt, die wir dann morgen erhalten. Wirklich fehlen tut uns aber im
Moment sonst nichts.
Eigentlich würde ich jetzt ein schönes Wochenende wünschen, aber es fühlt sich irgendwie nicht passend an. Eine
Portion Durchhaltevermögen sendet dir Inez.
Gestern feierten wir einen Geburtstag in Konferenzschaltung. Geschenke auspacken, anstoßen, futtern – alles
gemeinsam und doch getrennt. Das war eine interessante Erfahrung, wir haben auch recht viel gelacht.
April 2020
Ich halte mich momentan von den sozialen Netzwerken fern, aber die Leute, die anrufen oder mir schreiben, reden
doch immer wieder nur von der Corona-Krise. Es wird auch wieder bessere Zeiten geben, aber die sind für mich noch
nicht greifbar. Hoffentlich bist du noch gesund, gut versorgt und in Kontakt.
Nun ist Ostern vorbei und es waren doch recht schöne Tage, trotz der Schwierigkeit, alles so wie in den
vorangegangenen Jahren durchzuführen.
Die Situation wird bei uns immer schwieriger, da nun eigentlich das Semester beginnen sollte, aber nichts so richtig in
die Gänge kommt. Der Informationsfluss ist unregelmäßig und widersprüchlich, und das stresst Benjamin sehr.
In diesem Jahr hatten wir unseren Urlaub im Mai geplant, nun haben wir gestern alles storniert.
Mai 2020
Wir haben wie bereits erwähnt jetzt Urlaub. Das bedeutet, wir rücken jeden Tag Schränke, bauen Regale ab und
wieder auf und dazwischen wird tapeziert. Leon geht es dabei richtig gut: Er meint, er fühlt sich wie in einem
Ameisenhaufen – voller Leben und Geschäftigkeit.
In der vergangenen Woche war alles sehr schwierig. Gefühlte tausend neue Probleme und die Gesamtsituation an
sich haben dazu geführt, dass ich nervlich echt am Ende war. Benjamin sagte zu mir ganz sachlich: „Ich kann dir nicht
helfen, aber ich kann dir zuhören. Mir hilft es immer, wenn ihr mir zuhört. Ich bin jetzt alt genug, um das auch für dich
zu tun.“ Ja, es hat unglaublich geholfen zu spüren, dass Stärke plötzlich aus einer unerwarteten Richtung kommt.
Zu Himmelfahrt sind wir wieder durch unsere „Hauswälder“ gestreift. Inzwischen stehen an den Waldwegen Schilder
mit Abstandsaufforderungen.
Juni 2020
Heute ist der erste Abend in dieser Woche, an dem ich etwas zur Ruhe komme und meine Nachrichten beantworten
kann. Da kam gerade deine E-Mail herein – vielen Dank. Ich habe sie mit großer Freude gelesen, weil sie so positiv
ist! Hinter mir liegt eine schreckliche Woche. Meine Mutti erlitt am Dienstag einen Unfall und kam ins Krankenhaus.
Juli 2020
Ich habe mich gefreut zu lesen, dass du jetzt wieder Kontakte mit echten Menschen hast. Mehrere Freunde haben
inzwischen angefragt, ob wir uns endlich einmal wieder zum Essen verabreden möchten, aber ich habe darauf unter
den jetzigen Bedingungen keine Lust.
Unser Leben ist immer noch unverändert. Ich versuche positiv zu bleiben – mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.
Benjamin hat vor ein paar Tagen erfahren, dass die Uni im neuen Semester vorerst nur für Erstsemester wieder öffnen
wird, alle anderen Lehrveranstaltungen laufen weiterhin digital. Das wird schwer für ihn.
Am Montag gab es in der Wohnung über uns einen Rohrbruch, sodass bei uns in der Küche und im Bad das Wasser
an Wand und Fenster herunterlief und von der Decke tropfte. Nun gaben sich Hausmeister und Handwerker in den
letzten Tagen die Klinke in die Hand. Am Sonnabend haben wir zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie Besuch
eingeladen. Nun muss ich die Wohnung morgen wieder bewohnbar machen.
August 2020
Unser zweiter Urlaub ist fast vorbei. So richtig erholt fühle ich mich noch nicht, obwohl wir neben den Ausflügen kleine
Wanderungen unternommen sowie Freunde zum gemeinsamen Kochen und Essen getroffen haben. Vermutlich liegt
das an der miesen Gesamtsituation. Ich will – wie vermutlich viele – einfach nur mein altes Leben zurückhaben oder
ein neues vergleichbares. Was bleibt? Wie immer versuchen, positiv zu bleiben und den Mut nicht zu verlieren.
September 2020
Der runde Geburtstag ist nun schon seit einer Woche vorbei. Meine Eltern haben zuhause gefeiert und den
Hauptanteil der Besucher stellte natürlich meine „Mann“schaft. Die übrigen Gratulanten waren kurzzeitiger präsent.
Benjamin hat mir hinterher erzählt: „Die Oma hat mich dieses Mal sogar gefragt, ob sie mich anfassen darf.“
Oktober 2020
Pascal kam ziemlich überraschend nach Berlin und Benjamin hat ihn zur Begrüßung gefragt: „Wann fährst du wieder?“
Jeder, der so etwas hört, denkt sofort daran, dass er nicht sonderlich willkommen ist. Pascal weiß aber über Autismus
Bescheid und so hat er ebenso sachlich, wie die Frage gestellt worden war, auch geantwortet, worauf Benjamin
meinte: „Jetzt weiß ich, wie lange ich mich freuen kann.“
November 2020
Ich stimme J… zu: Die Einschläge rücken näher. Ein Bekannter (junger Mann, Risikogruppe, 2 kleine Kinder) hat sich
vermutlich angesteckt. Ebenso eine Freundin, nun sitzt sie in Quarantäne und möchte jeden Tag stundenlang
telefonieren …
Dezember 2020
Benjamin hat wie eigentlich alle Autisten Probleme mit Veränderungen. Das kann auch bedeuten, dass an Vertrautem,
was eigentlich nicht gut ist, selbst dann noch festgehalten wird, wenn Änderungen zum Besseren möglich wären. Die
Pandemie hat aber dazu geführt, dass er die Feiertage intensiver empfunden hat. Er sagt dazu: „Die Krise lässt das
Festliche erblühen.“
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An dieser Stelle möchte in den Artikel vorerst beenden. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit den Auswirkungen
der Pandemie auf meine beruflichen Aktivitäten.