Freyas Gunst - Vierter Teil
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
Nach dem Abschied begab sich Erik vom Garten aus sofort auf den Bergpfad. Seltsamerweise machte er sich keine
Gedanken darüber, wie er zurückkommen sollte. Vermutlich überwog einfach die Freude, dass er tatsächlich Freyas
Gunst gefunden hatte. Und dass er einer alten, einsamen Dame etwas Gesellschaft leisten konnte.
Er fand an einer Felswand, die zuvor eindeutig massiv gewesen war, einen Eingang zu einem weiteren Eistunnel,
was ihn jedoch nicht verwunderte. Diesmal schritt er sorglos und so schnell, wie es auf dem vereisten Boden ging,
durch den Tunnel. Er wusste, dass es ungefährlich war, und seine einzige Sorge bestand darin, wohin der Tunnel
ihn führen würde. Leider hatte er sich diese Frage nur im örtlichen und nicht im räumlichen Sinne gestellt, sonst
hätte der freie Fall am Ende des Tunnels ihn vielleicht nicht überraschen können.
Nicht sehr weit entfernt saß ein besorgter Vater im Wohnhaus seiner Farm. Der Vorsteher der Mine und einige
Minenarbeiter leisteten ihm Gesellschaft, wobei man aber nicht von einer fröhlichen Runde sprechen konnte.
Tatsächlich herrschte tiefste Betrübtheit. Angefangen hatte es damit, dass der Minenvorsteher am späten
Nachmittag an der Tür geklopft und dann gefragt hatte, ob Erik zuhause wäre. Als der Vater dies verneinen musste,
teilte ihm der Vorsteher mit: „Armin, es tut mir leid, doch Erik ist verschwunden. Er ist wie vom Erdboden
verschluckt.“
Daraufhin erzählte der Vorsteher, wie er den Stollen, in dem Erik allein gearbeitet hatte, leer vorfand. Niemand hatte
gesehen, wie der junge Mann die Mine verließ, dabei waren nicht wenige anwesend. Darum wurde eine Suche
veranlasst, die zuerst die Mine umfasste, dann die nähere und anschließend die weitere Umgebung, doch Erik blieb
verschwunden. Nirgendwo hatte irgendjemand ihn gesehen. Und nun verhinderte der Schneesturm weiteres
Suchen. „Das ist nicht gut, überhaupt nicht gut“, beklagte Armin, als er einen Blick aus dem Fenster warf. „Wenn
Erik da draußen ist, holt ihn der Tod.“ „Ich weiß ...“, gestand der Minenvorsteher. „Doch eine Suche macht keinen
Sinn. Wir sehen kaum die Hand vor Augen in dieser stürmischen Dunkelheit.“ Zustimmendes Gemurmel ertönte von
den anderen Minenarbeitern, wobei aber auch ein schlechtes Gewissen mitschwang. Armin antwortete nicht darauf,
sondern starrte weiter nach draußen in das Schneegestöber.
Da klopfte es an der Tür. Bevor die Minenarbeiter es überhaupt mitbekamen, befand sich Arnim bereits an der Tür
und riss sie auf. Was für ein Anblick sich ihm bot! Da standen ein Mädchen in einem etwas abgenutzten Mantel, ein
tropfenförmiges Ding und ein goldig glühendes Rentier vor seiner Tür. Und auf dem Rücken des Rentiers lag sein
Sohn Erik. Das Mädchen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Armin kam ihm zuvor: „Später, später. Kommt
erst einmal herein, ihr müsst ja halb erfroren sein.“ Armin machte Platz und ließ das Mädchen und das Ding herein.
Dann zog er Erik sanft vom Rücken des Rentiers und trug ihn mit der Stützhilfe des dazugekommenen
Minenvorstehers hinein. Nachdem Erik vor dem Kamin abgesetzt worden war, eilte Armin zurück zur Tür, um sich
das seltsame Rentier genauer anzusehen, doch es war bereits von dannen gezogen.
Am nächsten Morgen, am Weihnachtstag, weilte Erik wieder in den Reihen der Bewussten und hielt zitternd eine
Tasse mit heißer Schokolade in seinen Händen, während er mit mehreren Stoffdecken dick eingepackt auf einem
Stuhl nahe dem Kamin saß. Um ihn herum wanderten sein Vater, seine Retterin – das Mädchen, welches Katalina
hieß – und Katalinas ständiger Begleiter – das mysteriöse tropfenförmige Wesen Hugo –, um die letzten
Vorbereitungen für das gemeinsame Weihnachtsfest zu treffen, nachdem sie die Minenarbeiter am Morgen
verabschiedet hatten. Der Vater hatte als Dank für die Rettung seines Sohnes Katalina und Hugo zum
Weihnachtsfest eingeladen, was die beiden mit größter Freude angenommen hatten.
Während der letzte Baumschmuck an den Weihnachtsbaum gehängt und die köstlichen Gerichte auf die Tische
gestellt wurden, erzählten Erik und Katalina nacheinander, was sie erlebt hatten. „Das ist ja eine ganz wunderliche
Geschichte, die euch da widerfahren ist“, kommentierte Armin. Erik stimmte ihm zu: „Ja, ich bin mir auch nicht ganz
sicher, ob ich vielleicht einiges nur geträumt habe. Schade ist es auf jeden Fall um Freyas Gunst. Du hättest sie
sehen sollen, Vater. Eine der schönsten Blumen überhaupt. Hätte ich sie nur nicht verloren.“
„Es tut mir leid, Erik“, entschuldigte sich Katalina, während sie eine Christkugel an den Baum hing. „Hätte ich von ihr
gewusst, ich hätte die Augen aufgehalten.“ Doch Erik schüttelte den Kopf: „Es ist nicht deine Schuld. Ich hatte
einfach Pech, dass ich gestürzt bin. Vielleicht ist diese Rubinblume sowieso nur ein Traumgebilde meinerseits. Ich
hoffe nur, Cassandra ist nicht zu sehr enttäuscht darüber, dass ich kein Geschenk für sie habe.“ „Ich denke, sie wird
es verstehen“, meinte sein Vater. Er fuhr fort: „Und sie wird froh sein, dass dir nichts passiert ist. Das ist alles, was
zählt.“
Bevor Erik darauf etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. „Nanu, das ist aber etwas früh für unsere
Besucher“, murmelte Armin und ging an die Tür. „Und, wer ist es!?“ rief Erik fragend. „Niemand!“, antwortete sein
Vater. „Dafür musst du dir aber keine Sorgen mehr machen wegen des Geschenks für Cassandra“, fügte er hinzu,
während er in das Zimmer zurückkehrte. Fragend hielt er seinem Sohn einen Blumentopf hin: „Das ist doch Freyas
Gunst, oder?“
Tatsächlich! Es war die Blume mit der rubinroten Blüte in jenem Blumentopf, den die alte Dame Erik gegeben hatte.
„Ja, das ist sie!“, rief Erik erstaunt und glücklich aus. „Doch wo kommt sie her?“, fügte er fragend hinzu. „Keine
Ahnung“, gestand sein Vater. „Sie stand da einfach auf unserer Schwelle. Sie und dies hier ...“, erklärte er und hielt
etwas Grünes hoch. Es sah aus wie eine Zipfelmütze, doch sie war so klein, dass sie nur den Kopf eines Winzlings
wärmen konnte. „Anscheinend ist eure Geschichte nun noch um einen wunderlichen Aspekt reicher“, kommentierte
Armin leicht schmunzelnd.
Katalina hingegen konnte ihren Blick nicht von der rubinroten Blüte lösen. „Was für eine wunderschöne Pflanze. Ich
beneide deine Freundin. Doch wie sieht sie mit geöffneter Blüte aus?“, wollte sie wissen. „Das weiß ich nicht“,
gestand Erik. „Aber ich bin mir sicher, dass wir es zur Bescherung wissen werden.“