Freyas Gunst - Erster Teil
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
Wenn sich der Herbst mit kargen Bäumen, mit langsam, aber stetig länger werdenden Nächten und mit
einsetzendem Frost verabschiedet, kommt sein Bruder, der Winter, und bedeckt die weiten Felder und tiefen Wälder
der Insel mit seiner weißen Pracht, so als wollte er all jenen, die sich nach dem Frühling sehnen, etwas Trost in den
letzten Monaten des Jahreszyklus spenden. Eis und Schnee strahlen eine kalte Ruhe aus, die zuerst einen das
Fürchten lehrt, dann aber den inneren Frieden nährt, der noch anhält, wenn man sich bereits mit seinen Liebsten am
heimischen Kamin aufwärmt.
Diese bezaubernde Jahreszeit hatte einen Höhepunkt: drei Tage, an denen eine besonders starke Form der
friedlichen Magie wirkte. Es waren Tage, an denen keine Sorge schwer auf dem Herzen liegen konnte. Man ahnt es
bereits, dass es sich bei diesen magischen drei Tagen um die Weihnacht und um ihre beiden Söhne, die
Weihnachtsfeiertage, handelte.
Doch auch wenn Weihnachten eine magische Zeit bescherte, so bereitete die Zeit davor nicht wenigen sowohl Stress
als auch Kopfzerbrechen, schließlich musste das Fest wie jedes andere vorbereitet werden. Christbäume bedurften
des Aufstellens, Weihnachtsschmuck sollte an diese gehangen werden und natürlich wollte jeder zum Fest köstliche
Lebkuchen, Weihnachtsgebäck und Weihnachtsstollen zum Naschen haben. Kein Wunder also, dass die junge
Cassandra mit den blonden Zöpfen – anstatt mit dem Schild draußen in der Kälte lauthals für den Familienbetrieb zu
werben – in der Backstube stand und ihrer Mutter sowie ihren Schwestern beim Backen half. Selbst ihr Vater, der sich
erst vor Kurzem von schwerer Krankheit erholt hatte, half mit, was einiges an Besorgnis bei seinen Liebsten
hervorrief.
„Ruh dich bitte aus, Johann, wenn es zu viel wird“, bat Marianne ihren Mann, doch dieser winkte ruhig ab: „Mach dir
um mich keine Sorgen, meine Liebste. Wenn ich fit genug bin, um morgen durch Eis und Schnee zur Farm meines
alten Freundes Armin zu wandern, kann ich ebenso gut euch helfen. Schließlich musstet ihr schon lange genug ohne
mich auskommen.“ „Niemand macht dir einen Vorwurf, Papa“, erwiderte Cassandra, die gerade dabei war, aus dem
Teig elchförmige Kekse auszustanzen. „Es hatte dich schließlich ganz schön schlimm erwischt“, pflichtete ihre
Schwester Betty bei, während sie einige Stollen im Backofen in Augenschein nahm. „Trete ruhig etwas kürzer, Papi“,
fügte zuletzt Ricarda, die dritte im Bunde, hinzu. „Noch einmal wollen wir nicht um dein Leben bangen müssen.“
„Okay, okay, ihr habt mich überredet“, gab sich Johann geschlagen. „Ich werde auf mich achten. Aber solange ich
noch Kraft in den Fingern habe, werde ich am Backofen stehen. Schließlich ist morgen Weihnachten und nicht
wenige warten noch auf ihre Bestellungen. Also ran an den Teig!“ „Ja, genau“, stimmte Betty zu. „Wir wollen
schließlich Cassandra nicht um die Gelegenheit bringen, Weihnachten mit ihrem Erik zu verbringen“, fügte sie hinzu.
„Was willst du denn damit sagen?“, wollte Cassandra möglichst ungerührt wissen, während sich doch etwas Röte auf
ihren Wangen ansammelte. „Cassandra … Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass du etwas mit Erik hast“, erklärte
Ricarda und fügte mit einem vielsagenden Lächeln hinzu: „Vor allem seit eurer Liebelei am See …“ „Woher weißt du
davon?!“, fragte Cassandra mit einem erschreckten Japsen, während die Röte ihrer Wangen zunahm.
„Ricarda! Betty! Ihr sollt doch eure Schwester nicht so in Verlegenheit bringen!“, ermahnte Marianne die beiden, doch
bevor Cassandra ihr dafür danken konnte, fragte die Mutter ganz unschuldig: „Apropos Erik: Wie macht sich denn
mein zukünftiger Schwiegersohn? Ich hörte, dass er bei der Stadtwache anfangen will.“ „Mama!“, rief Cassandra
erbost aus, beschloss dann aber, nachdem sowohl Mutter, Schwester als auch Vater ihr Schmunzeln beigelegt
hatten, die peinliche Situation einfach zu ignorieren, indem sie antwortete: „Erik ist zurzeit damit beschäftigt zu
beweisen, dass er zur Stadtwache taugt, weshalb er bei einigen Leuten aushilft. Soweit ich weiß, ist er gerade in den
Minen beschäftigt.“
‚Verflucht … hicks … Warum muss … hicks … so ein Schluckauf … hicks … immer aus dem … hicks … Nichts
kommen …‘, fragte sich Erik im Geiste, während er hicksend mit der Spitzhacke gegen den harten Fels schlug, stetig
auf der Suche nach Eisen. Seine Arme wurden langsam schwer, doch er ignorierte es, denn in einer halben Stunde
würde seine Schicht zu Ende sein und Erik wollte gerade an seinem letzten Tag in der Mine einen guten Eindruck
beim Vorsteher hinterlassen. Schließlich hing davon seine Zukunft als Stadtwache ab. Außerdem konnte er den Lohn
gut gebrauchen, um Cassandra etwas Schönes zu Weihnachten zu kaufen. Wenn er nur wüsste, was.
Erik vernahm hinter sich staubig klingende Schritte und das Kullern zur Seite gestoßener Steinchen. Anscheinend
würde ihm nun jemand Gesellschaft im Stollen leisten. Als der Neuankömmling sich neben Erik an die Felswand
stellte, drehte der junge Mann seinen Kopf, um – wie es sich unter Minenarbeitern gehörte – kurz „Tag“ zu sagen,
aber er stutze. Volle Bärte waren keineswegs eine Seltenheit hier, tief unter der Erde. Doch keiner von den anderen
Bärten war so weiß wie Schnee. Eigentlich sollte es sogar unmöglich sein, denn der ganze Dreck und Staub, der bei
einer so intensiven Arbeit anfiel, setzte sich immer auf Kleidung, Haut und Haar ab – selbst wenn man nur durch die
Minengänge lief.
Das hartnäckige Weiß war allerdings nicht das einzige Seltsame an diesem Mann, der neben Erik die Felswand mit
einer Spitzhacke zu bearbeiten begann. Mit seinem beeindruckenden Leibesumfang wies er nicht gerade die typische
Statur eines Minenarbeiters auf. Außerdem sah er alt aus, sehr alt. Auch wenn der prächtige Bart einiges verdecken
konnte, so war es offensichtlich, dass dieser Mann alt genug war, um Großvater, vielleicht sogar Urgroßvater zu sein.
Jedoch schien das Alter nicht seine körperliche Kraft genommen zu haben, denn er schlug nicht weniger schwungvoll
zu als Erik.