Freyas Gunst - Zweiter Teil
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
„Ist etwas, mein Junge? Habe ich etwas im Gesicht?“, fragte der alte Mann Erik plötzlich. „Wäre ja nicht
verwunderlich bei all dem Schmutz hier, ho-ho-ho“, fügte er hinzu und während er jenen ansah, lachte er auf diese
so eigenartig fröhliche Art und Weise. „Äh, was? Nein, entschuldigen Sie, ich wollte nicht starren“, antwortete Erik
verlegen und fixierte demonstrativ die Felswand. Dann aber blickte er den Alten erneut an: „Na ja, ehrlich gesagt,
habe ich mich gewundert. Verzeihen Sie bitte diese direkte Frage: Sind Sie aber nicht … etwas zu alt für so eine
Arbeit?“ „Ho-ho-ho, ja bin ich. Ich bin aber auch nur hier, um kurz für meinen Enkel einzuspringen. Der muss etwas
Dringendes erledigen“, erklärte der alte Mann, wieder eigenartig fröhlich lachend.
Erik war erstaunt, doch bevor er ungläubig mehr erfahren konnte, begann der Alte ihn zu befragen: „Doch sag mal,
mein Junge, warum siehst du so bedrückt aus am Tag vor Weihnachten? Natürlich ist verständlich, dass du beim
Schuften kein Liedlein anstimmen willst, doch etwas lächeln solltest du schon.“ „Wissen Sie, ich und mein Vater
feiern Weihnachten zusammen mit seinem alten Freund Johann und dessen Familie auf unserer Farm“, begann
Erik zu erzählen, wobei er keinen Gedanken daran verschwendete, warum er das ausgerechnet diesem alten Mann
erzählte. „Seine Tochter Cassandra ist … eine sehr gute Freundin von mir und ich möchte ihr etwas ganz
Besonderes zu Weihnachten schenken.“
„Eine durchaus verzwickte Lage, mein Junge“, musste der alte Mann zugeben und während er über seinen Bart
strich, dachte er nach: „Seiner Liebsten möchte man natürlich etwas schenken, dass ihr als Beweis der Liebe
erscheint.“ „Ich habe nie was von Lieb…“, erwiderte Erik verlegen, doch da wurde er schon fragend unterbrochen:
„Mag sie Blumen?“ „Blumen?“, echote Erik verdutzt. „Ja, sehr sogar. Aber ich schenke ihr schon das ganze Jahr
über Blumen. Es wäre etwas einfallslos, ihr auch zu Weihnachten welche zu schenken. Und wo sollte ich im Winter
frische Blumen herbekommen?“ „Nun, es gibt eine ganz besondere Blume, die dank ihrer Einzigartigkeit das
perfekte Geschenk zu Weihnachten wäre“, offenbarte der alte Mann geheimnisvoll und eröffnete dann: „Freyas
Gunst!“
„Freyas Gunst?“, fragte Erik mit erwachender Neugierde. „Ja, man nennt sie die immerwährende Blume, die nur im
Winter blüht und auch nur, wenn sie von Liebe umgeben ist“, erzählte der alte Mann mit theatralischer Stimme.
„Niemand weiß genau, wie sie aussieht oder wo sie wächst“, fuhr er fort. „Dann ist sie für mich außer Reichweite“,
meinte Erik enttäuscht. „Und selbst wenn ich Mittel und Wissen hätte, ich könnte sie niemals rechtzeitig finden,
selbst wenn es sie wirklich gäbe“, fuhr er fort. „Da hast du vermutlich recht“, stimmte der alte Mann zu, um dann
aber mit einem geheimnisvollen Lächeln zu sagen: „Doch mit einem Wunder könntest du es schaffen. Und wann
sollte man auf ein Wunder hoffen, wenn nicht zur Weihnachtszeit?“ „Ich glaube, ich kann nicht ganz folgen …“,
murmelte Erik und ihm kam der alte Mann immer wunderlicher vor. Jener legte sich die Spitzhacke auf die Schulter,
sagte nur noch: „Zögere nicht zur rechten Zeit“, und wandte sich ab, um aus den Stollen zu gehen. Er
verabschiedete sich mit einem „Fröhliche Weihnachten, mein Junge!“, bevor er mit seinem Ho-ho-ho-Lachen in die
Dunkelheit verschwand und Erik in vollkommener Verwirrung zurückließ.
Der wackere junge Mann bearbeitete in der Mine weiterhin die Felswand und schlug Eisenbrocken um
Eisenbrocken aus ihr heraus, während er über die Worte des Alten nachdachte. Er wusste selbst nicht, warum ihn
das so sehr beschäftigte. Die Worte klangen eigentlich nach dem Üblichen, was sinnierende Alte von sich gaben,
wenn ihre Gedanken etwas durcheinandergerieten. Doch irgendwie wurde Erik das Gefühl nicht los, dass er mit
dieser Auffassung dem Alten Unrecht tat.
Grübelnd schlug er abermals mit der Spitzhacke auf das Gestein, doch beim nächsten Schlag setzte sich das
brechende Knirschen unaufhaltsam fort. Erik wich rechtzeitig von der Felswand zurück, welche einen Augenblick
später in sich zusammenbrach. Eine Staubwolke breitete sich im Stollen aus und nistete sich in Eriks Augen und
Hals ein. Nachdem Augen und Luftröhre sich durch Weinen und Husten von den staubigen Fremdkörpern befreit
hatten, sah Erik zu seinem Erstaunen, dass sich ein sonderbarer Durchgang in der Felswand aufgetan hatte.
„Was zum ...“, entfleuchte es Erik, während er sich diesen Durchgang näher ansah. Es war der Beginn eines engen
Tunnels, der nur einer Person genügend Platz bot und dessen Innenseite scheinbar von einem durchsichtigen,
blaugrauen Kristallgeflecht überzogen war. Als Erik jedoch die Tunnelwand mit seiner Hand berührte, drang eine
eisige Kälte in seine Finger. 'Ein Tunnel, vereist, so tief unter der Erde? Das ist mir nicht geheuer, ich sage besser
dem Vorsteher Bescheid', dachte Erik und er machte sich auf, um dies zu tun. Doch er ging nur einige Schritte,
dann hielt er inne. 'Ich soll nicht zögern', überlegte er und entsann sich der Worte des Alten. Der junge Mann blickte
zurück zum Eistunnel. 'Soll ich es wirklich wagen? Es könnte eine Falle des Alten sein', grübelte Erik weiter. 'Na ja,
er war zwar seltsam, aber bösartig erschien er mir nicht. Außerdem wäre es schon interessant zu wissen, was sich
hinter dem Tunnel befinden könnte.'
Erik nahm seinen ganzen Mut zusammen und betrat den Tunnel. Behutsam durchquerte er ihn im Schein der
Lampe seines Grubenhelms Meter um Meter, die Sinne geschärft und immer auf die nächste Biegung gerichtet.
Doch der Tunnel erwies sich als ungefährlich und auch als etwas langweilig. Der junge Mann bekam die ganze Zeit
nur vereiste Wände zu Gesicht und das Einzige, worauf er achten musste, bestand darin, nicht auf dem ebenfalls
vereisten Boden auszurutschen. Wie lange er durch diesen Tunnel ging, wusste er später selbst nicht mehr.
Irgendwie schien die Zeit mit jedem seiner Schritte immer mehr zu verschwimmen. Auf jeden Fall schien sie nicht in
ihren gewohnten Bahnen zu verlaufen. Das wurde Erik schlagartig klar, als der Tunnel endlich endete und er ins
Freie trat. In der Mine musste es ungefähr Mittagszeit gewesen sein, als Erik seine Reise durch den Tunnel antrat.
Draußen war es demzufolge taghell gewesen und das Tageslicht hätte auch in dieser dunklen Jahreszeit noch ein
paar Stunden angehalten. Doch nun herrschte tiefste Nacht und die Sterne leuchteten am Himmelszelt. Und das
war noch eine der kleineren Seltsamkeiten.
Erik befand sich auf einem kleinen Gebirgspfad. Über ihm und auch unter ihm erstreckte sich im Mondschein eine
Berglandschaft mit unzähligen, dem Himmel entgegengestreckten Gipfeln, mit tiefen Schluchten und mit wuchtigen
Felswänden. Ein atemberaubender, weitreichender Ausblick bot sich dem jungen Mann. Er konnte sogar das
Glimmen in der Ferne liegender Städte erspähen. Erik erkannte sofort, dass er nicht mehr auf seiner Heimatinsel
war. Diese bot für ein so stolzes Gebirge nicht einmal ansatzweise genügend Platz. 'Okay, das ist mehr als nicht
geheuer, das ist direkt unheimlich. Ich gehe besser zurück ...', beschloss Erik, doch als er sich umdrehte, blickte er
nur auf nackten Fels. Der Eistunnel war verschwunden. 'Nein, das kann nicht wahr sein … Ich sitze hier fest!'
Nachdem der Schrecken langsam abgeklungen war und Erik sich wieder beruhigt hatte, beschloss er, erst einmal
seine Umgebung zu erkunden. Bislang hatte er nur den Ausblick genossen, nun sah er einen Pfad. Zu seiner
Erleichterung erkannte er, dass der Pfad zu einem kleinen Häuschen führte, welches auf einem großen Felshang
stand und in dessen Fenstern Lichter brannten. Die Erkenntnis, dass es bewohnt war, und der damit verbundene
Gedanke, dass er nicht allein hier war, gaben Erik genug Mut und Kraft, um den Aufstieg in Angriff zu nehmen.