Freyas Gunst - Dritter Teil
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
Es beanspruchte eine halbe Stunde, den Bergpfad zu meistern, doch letztendlich stand Erik vor dem Häuschen.
Dieses erwies sich nicht als einfache Holzhütte, sondern als ein kleines Fachwerkhaus, das hier im kalten, felsigen
Irgendwo etwas fehl am Platz wirkte. Das war im Moment jedoch eher zweitrangig, denn die bissige Kälte und der
reißende Wind hatten Erik stark zugesetzt, sodass er nichts Eiligeres zu tun hatte, als mit seiner zitternden Faust an
die Haustür zu klopfen.
Es vergingen einige Momente, bis die Tür geöffnet wurde und eine vom Alter gebeugte Frau verdutzt Erik ansah.
„Einen angenehmen Abend“, grüßte Erik die Frau, die über ihrer Hauskleidung eine Schürze mit allerlei
Arbeitsutensilien, die man für die Gartenarbeit benötigte, trug – was seltsam erschien in Anbetracht der
Vegetationslosigkeit der Gegend. „Bitte verzeiht, dass ich Sie zu so später Stunde belästige, doch ich bin etwas vom
Weg abgekommen …“, erklärte sich Erik, worauf ihm die Alte einen vielsagenden Blick zuwarf. „Etwas sehr, vermute
ich mal“, meinte sie. „Wir sind hier meilenweit weg von jeglicher Besiedelung. Doch kommen Sie erst einmal herein,
bevor Sie mir noch erfrieren.“ Mit diesen Worten trat sie zur Seite und ließ Erik in ihr Heim.
Wenig später saß der junge Mann mit der Alten in einer erstaunlich warmen Stube an einem Tisch und trank den
heißen Tee, den die freundliche, alte Dame ihm angeboten hatte. „Und? Fühlen Sie sich etwas besser?“, fragte die
alte Frau, während sie erneut einschenkte. Erik nickte ihr dankbar zu: „Ja, ich fühle mich langsam wieder
quicklebendig. Übrigens, sehr schöne Pflanzen, die Sie hier haben.“ „Danke. Sie sind mein Lebenswerk und das
meines Mannes“, erklärte die Alte und Erik glaubte dies sofort. Es gab keine Wand im Haus, an der nicht ein
Blumentopf oder ein Pflanzenkübel stand. Schon als er eingetreten war, hatten ihn die Hülle und Fülle an farbigen
Blumen, langen Ranken und grün leuchtenden Blättern den Atem verschlagen. Er hätte nicht gedacht, dass man
hier, in einer eisigen Gegend fern von jeder Stadt, so ein kleines grünes Paradies hegen und pflegen konnte.
„Doch sagen Sie mal, warum lebt jemand in Ihrem Alter an so einem … zurückgezogenen Ort?“, fragte Erik seine
Gastgeberin höflich. Diese antwortete mit einem leicht verschmitzten Blick: „Das mag zwar jetzt etwas seltsam
klingen, doch tatsächlich waren mein Mann und ich hierher gezogen wegen unserer Leidenschaft: dem Züchten
besonderer Pflanzen. Und ja: Wenn man die meisten Pflanzen als Maßstab nimmt, gibt es viele bessere Orte für
diese Kunst. Doch wir wollten eine ganz bestimmte Pflanze aufziehen: Freyas Gunst.“
Erik verschluckte sich an seinem Tee, was für die alte Dame nicht unerwartet kam. „Ja, es war nicht wenig, was wir
uns da vorgenommen hatten. Die meisten halten diese Blume für eine gegenstandslose Legende und wir mussten
viele Rückschläge hinnehmen, bis wir herausfanden, was Freyas Gunst wirklich braucht, um zu erblühen. Es ist kein
besonderes Wasser, keine fruchtbare Erde und kein ausgefallener Dünger. Es ist das graublaue Gestein, das man
nur hier auf diesem Berg findet.“ „Eine Pflanze, die auf Stein wächst?“, fragte Erik erstaunt. „Unglaublich, nicht
wahr? Solange die Blume ihre Wurzeln in dieses Gestein schlagen kann, braucht sie nichts anderes. Man muss sie
nicht einmal gießen, was angesichts dieser Witterung sowieso nicht möglich wäre“, erklärte die alte Dame. „Wollen
Sie sie vielleicht einmal sehen? Ich habe dieses Jahr besonders schöne Exemplare in meinem Steingarten“, bot sie
Erik an. „Es wäre mir eine Freude“, nahm dieser dankend an.
Einige Minuten später – die alte Dame musste sich zuerst einen Pelzmantel überziehen – standen Jung und Alt
draußen im Hinterhof des Häuschens, der tatsächlich so etwas wie eine Art Garten war. Und hier bot sich die Pracht
von Freyas Gunst Eriks Augen dar. Diese Blume unterschied sich gewaltig von jeder anderen, die der junge Mann
zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Der lange Stängel und die sternförmigen Blätter schienen aus
durchsichtigem, hellgrünem Kristallglas zu bestehen, während die Blüte, die bei allen Exemplaren geschlossen war,
die Form eines perfekten Apfels hatte und in einem kräftigen, undurchlässigen Rubinrot erstrahlte.
„Darf ich?“, fragte Erik um Erlaubnis. „Nur zu“, ermunterte ihn die alte Dame. „Sie brauchen keine Scheu zu haben.
Diese Blumen sind keine Mimosen, ganz im Gegenteil. Sie überstehen sogar einen Felsschlag.“ Erik beugte sich zu
einem besonders schönen Exemplar und berührte vorsichtig seine Blätter. Zu seiner Überraschung fühlten sie sich
weich an, ganz anders als ihr kristallenes Aussehen vermuten ließ.
„Wann werden sie blühen?“, wollte er wissen. „Nie mehr ...“, antwortete die alte Dame und ihre bis eben noch sehr
freundliche Stimme nahm einen tieftraurigen Tonfall an. „Als es mir und meinem Mann vor vielen Jahren gelungen
war, diese übernatürlichen Blumen aufzuziehen, konnten wir uns jedes Jahr im Winter an ihren rubinroten Blüten
erfreuen – bis mein Mann vor drei Jahren im Winter starb. So, als würden die Pflanzen selbst Trauer tragen, haben
sie ihre Blüten verschlossen und seitdem nie wieder geöffnet.“ „Mein Beileid“, drückte Erik sein Mitgefühl aus. „Sehr
aufmerksam von Ihnen“, bedankte sich die alte Dame und warf einen Blick auf das steinerne Blumenbeet. Ihr kam
eine Idee.
„Bitte warten Sie mal einen Moment“, bat sie Erik und verschwand im Haus. Wenige Augenblicke später kam sie mit
einem Blumenkübel zurück. Erik sah ihr zuerst verwundert zu, wie sie diesen neben das Beet stellte, dann staunte
er darüber, wie eine der Pflanzen darauf reagierte. Mit lautem Knirschen befreiten sich die Wurzeln aus eigenem
Antrieb aus dem Stein und hievten als Sprungbeine die ganze Pflanze in den mit Erde gefüllten Kübel. „Eine in jeder
Hinsicht ungewöhnliche Pflanze ...“, meinte Erik. „Nicht wahr? Auch wenn diese Blumen das Gestein zum Gedeihen
brauchen, sehnen sie sich – wenn sie erst einmal ausgewachsen sind – nach weicher Blumenerde wie jede andere
Pflanze“, erklärte die alte Dame, als wäre es eine ganz normale Angelegenheit.
Sie hob den Blumenkübel hoch und überreichte ihn Erik: „Hier! Bitte sehr.“ Erik war überwältigt: „Ich … ich habe kein
Geld bei mir. Und selbst …“ „Ich bitte Sie“, unterbrach ihn die alte Dame. „Es ist ein Gastgeschenk. Ein Dankeschön
für ihren Besuch. Es ist ziemlich einsam hier oben geworden seit dem Tod meines Mannes“, ergänzte sie. „In dem
Fall nehme ich es dankend an. Danke!“ Mit diesen Worten nahm Erik den Blumentopf mit Freyas Gunst entgegen.
„Sie sollten nun gehen. Bei Ihnen Zuhause warten doch sicher Ihre Liebsten auf Sie. Schließlich beginnt mit der
Dämmerung bald Weihnachten“, riet die alte Dame und Erik musste ihr zustimmen: „Ja, Sie haben Recht. Danke für
Ihre Gastfreundschaft und geruhsame Weihnachten.“ „Leben Sie wohl, junger Mann“, gab die Gärtnerin ihm mit auf
den Weg.