Weihnachtsgeschichte aus Mora
© Inez Maus 2014–2024
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
„Mama, warum ist es Thor, der uns die Geschenke bringt?“ Überrascht hielten die blond befellten Finger inmitten der
Luft an, sodass die rote Julkugel ungeduldig vor dem Ast des Tannenbaumes baumelte, den sie schmücken sollte.
„Wo kommt denn diese Frage auf einmal her?“, wollte die Katzenfrau von ihrer kleinen, rotfelligen Dilia wissen,
während sie die Kugel aufhing. „Na, Thor ist doch ein grobschlächtiger Mann. Der macht doch nichts anderes, als
dumm Leute zu schlagen“, erklärte sich das Katzenmädchen, auf ihren gestreckten Pfotenfüßen balancierend, um ein
Stück Lametta auf einen mittleren Ast des Tannenbaumes über ihr zu legen. Von der anderen Seite des Julbaumes
kam ein kurzes Lachen und sogleich linste hinter den Nadeln Dilias Bruder Jörg, wölfisch grinsend. „Was?“, verlangte
Dilia zu wissen, erzürnt mit ihren aus dem roten Haar herausragenden, kleinen Katzenohren wackelnd. Der
Wolfjungendliche erwiderte das Wackeln höhnisch mit seinen rotblonden, bereiteren Ohren: „Von allen Mädchen, die
ich kenne, bist du die nervtötendste und grobschlächtigste. Selbst Thors Hammer könnte Nerven nicht so gut
zertrümmern wie du.“ „Nicht wahr!“, brüllte Dilia und stampfte mit ihrem rechten Pfotenfuß auf den Holzboden, dem
Julbaum gefährlich nahe. „Jörg! Du solltest deine Schwester nicht am Julfest ärgern“, ermahnte die Mutter ihren Sohn,
wobei ihr langer, blonder Schwanz die Ermahnung durch stringentes Wedeln unterstrich. Aus der nahen Küche kam
sogleich unpassend schnippisch: „Und vorzugsweise auch an allen anderen dreihundertvierundsechzig Tagen des
Jahres.“ Glücklicherweise schien der Mann zu spüren, dass ein Scherz allein hier vielleicht wenig hilfreich war, denn
eine Handvoll Momente später sah der rotfellige Wolfmann besorgt hinein ins Wohnzimmer, die Küchenschürze
tragend. „Droht der Kummer hier sich breitzumachen?“, fragte er zu seiner Tochter blickend, die mit geballten Fäusten
vor ihrem Bruder stand. Ihre Lippen presste sie zitternd zusammen, während ein, zwei Wuttränen über ihre blanke
Wange rollten, sich in den Schnurrharren verfingen. „Ich werde ihn schon vertreiben, mein Lieber“, versicherte die
Katzenfrau ihrem Mann, während sie sich leicht herabbeugte, um Dilia tröstend und sanft an dem einen Ohr zu
streicheln. „Kümmere dich um die Gans.“ Der Vater zog sich zurück in die Küche und die Mutter warf ihrem Sohn
einen vorwurfsvollen Blick zu. Dieser senkte beschämt den Blick und wackelte zaghaft mit seinem buschigen
Schwanz, während er sich verteidigte: „Mutti, es ist doch wahr. Sie hat Elisabeth das Leben schwer gemacht. Und
dann das ganze Beißen!“ Die Mutter konnte seinen Worten nicht widersprechen, weshalb sie stattdessen sagte: „Es
ist trotzdem nicht nett, jemandem am Julfest seine Untaten vorzuhalten.“ „Ich bin nicht böse …“, flüsterte Dilia, ihre
Schnurrhaare mit immer mehr Tropfen beschwert habend. „Du bist auch nicht böse“, tröstete die Mutter sie.
„Warum gönnen wir uns nicht eine kleine Pause vom Baumschmücken?“, bot die Mutter an und setzte sich sogleich
auf das Sofa des Wohnzimmers, so positioniert, dass man links und rechts des halb geschmückten Baums durch das
Fenster die verschneite Straße bewundern konnte. „Komm, setz dich“, forderte sie ihre Tochter auf, auf ihren Schoß
deutend. Doch diese schüttelte mit ihren geröteten Wangen nur den Kopf: „Ich bin ein großes Mädchen.“ „Ja, das bist
du“, nickte die Mutter. „Und bald bist du auch zu groß für meinen Schoß. Also solltest du die Gelegenheit noch nutzen,
solange du kannst.“ Mehr Überzeugung bedurfte es nicht und einen Moment später saß Dilia auf dem Schoß ihrer
Mutter, sich ankuschelnd sowie ihren pelzigen Schwanz um deren linken Arm windend. „Du auch, Jörg“, winkte die
Mutter ihren Sohn zu sich, doch dieser erwiderte: „Mutter, ich bin garantiert zu schwer für deinen Schoß.“ „Aber nicht
für meine Schulter“, meinte die Mutter und wartete dann geduldig, denn sie merkte, dass ihr Sohn zögerte. Er war in
einem Alter, in dem man begann, sich unabhängig von seinen Eltern zu machen, weshalb Zärtlichkeiten einem
zuwider sein könnten. Deshalb erwärmte es hier Herz sehr, als ihr Sohn sich einen Ruck gab und sich neben sie
setzte, um seinen Kopf an ihre freie Schulter anzulehnen. Nun seine Ohrspitzen an den Ansätzen ihrer Kopfseite
kitzeln habend, während Dilias das gleiche mit ihrem Kinn taten, beschloss sie, auf die eine Frage einzugehen, die
das alles zum Rollen gebracht hatte: „Du hast dich gewundert, warum Thor die Geschenke bringt, Dilia.“ Sie spürte
das Nicken ihrer Tochter, bevor diese meinte: „Ja, er ist doch die ganze Zeit damit beschäftigt, den Eisriesen Feuer
unter dem Hintern zu machen. Ich verstehe einfach nicht, was ein Kriegsgott mit einem schönen Fest wie dem Julfest
zu tun hat.“ „Nun, meine Liebe, du irrst dich auch in einem entscheidenden Punkt: Thor ist kein Gott des Krieges“,
erklärte die Mutter, worauf Dilia sich von ihr löste, um sie mit ungläubig zuckenden Ohren anzustarren. „Aber er macht
doch nichts anderes, als zu kämpfen“, entgegnete sie. „Oh ja, er ist durchaus ein Gott der Kämpfer. Und des
Wagemutes“, gab die Mutter zu. „Er ist aber auch ein Gott der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus und widmet damit seine
Taten auch den Bauern, den einfachen Leuten.“ „Ich sehe da keinen Zusammenhang“, beteiligte sich nun auch Jörg
an dem Gespräch, immer noch seinen Kopf angelehnt habend. „Was hat Ackerbau mit dem Kämpfen zu tun?“ „Nun,
das Leben an sich ist ein Kampf“, eröffnete die Mutter und musste schmunzeln, als beide Kinder sie mit großen Augen
ansahen. „Ihr wisst doch sicher, warum Thor sich mit den Eisriesen anlegt, oder?“ „Natürlich“, meinte Dilia, „weil sie
sonst alles eineisen würden.“ „Genau. Und warum wollen die Eisriesen alles unter Frost und Schnee begraben?“,
wollte die Mutter wissen. Darauf wusste die kleine Dilia nichts zu erwidern und ihr Bruder konnte nur einen
gehässigen Kommentar bieten: „Vermutlich, weil sie einfach bösartig sein. Wie eine gewisse Schwester …“ Die Mutter
gebot ihm rasch mit einem mahnenden Blick Einhalt, bevor sie erklärte: „Nun, die Eisriesen haben durchaus einen
schlechten Charakter. Doch sie tun, was sie tun, nicht, weil sie den Göttern oder den Menschen Böses wollen. Sie tun
es, weil sie das Eis und der Schnee sind. Denn wie alle mythischen Wesen sind sie Verkörperungen der wilden,
ungebändigten Natur.“ „Dann verkörpern die Eisriesen also den Winter?“, begann ihr Sohn zu begreifen und seine
Schwester fügte fragend hinzu: „Und Thor ist …?“ „…eine Verkörperung unserer Beziehung zur Natur. Welche eine
ist, die von dem ständigen Ringen für das Überleben geprägt ist. Das Ringen des Bauern mit dem Boden, welcher
nicht freiwillig reiche Ernte trägt, und mit dem Wetter, welches jene davontragen will. Oder des Holzfällers, der mit
dem Baum ringt, um ihn in Scheite zu hacken. Oder dem Jäger, der mit dem Hirsch ringt. Oder auch dem Krieger, der
Heim und Familie schützt, indem er mit dem Räuber ringt. Sie alle verkörpern Thor.“
„Und wie kommt da nun das Julfest ins Spiel?“, wunderte sich Dilia, worauf die Mutter rasch antwortete: „Der Winter
kommt, wenn die Eisriesen erstarken. Dann verkünden die kürzer werdenden Tage von ihrem drohenden Sieg und
Thor muss an seine Grenzen gehen, um einen ewigen Winter zu verhindern. Jedes Jahr gelingt ihm das
glücklicherweise, weshalb es zur Wintersonnenwende kommt und die Tage wieder länger werden. Wir feiern dann das
Julfest, aber nicht nur, um Thors Sieg zu feiern, sondern auch unser eigenes Überleben, denn das ganze Jahr über
haben wir gerungen, damit wir den harschen Winter überleben können. Hätte der Bauer nicht mit dem Boden
gerungen, würden wir hungern. Und ohne den Holzfäller würden wir frieren.“ „Na ja, wir müssen heutzutage wohl nicht
mehr so sehr ringen“, meinte Jörg, mit dem buschigen Schwanz zu dem Heizkörper deutend. „Du täuschst dich, Jörg“,
widersprach die Mutter sanft. „Auch wenn der Bauer heutzutage mit seinem Dampftraktor sich den Boden untertan
macht, so ringt er nicht weniger als sein Vorfahr. Anstelle des Holzfällers ist es zudem der Heizer, der mit der Kohle
ringt, damit wir es kuschelig warm haben.“ „Du meinst mit dem Wasser der Quelle“, verbesserte Dilia, worauf die
Mutter ihr lachend über den Kopf strich: „Als ich so klein war wie du, nutzten wir noch Kohle. Aber ja, unsere Heizer
ringen mit dem Himmelsstrom der Quelle.“ „Und du und Papa ringt als Heiler mit den blöden Erkältungen, die die
Leute heimsuchen“, sprach Dilia weiter, wobei nach und nach ihre Traurigkeit abblätterte. „So ist es“, lächelte die
Mutter. Sie fuhr fort: „Und wir alle kommen zum Julfest mit unseren Familien und Freunden zusammen, um zu feiern,
dass wir ein weiteres Jahr überstanden haben, dem Winter die Stirn geboten haben. Gemeinsam reflektieren wir auch
über unsere Triumphe und unsere Rückschläge, während wir den frischen Frühling erwarten. Und der gute Thor
mischt sich unter die Leute und bringt auf seinem von Steinböcken gezogenen Schlitten die Geschenke. Denn für ihn
sind wir, die Menschen, die Frucht seines endlosen, aber nicht zwecklosen Ringens.“
Eine Handvoll Momente sagte Dilia nichts, sondern saß gedankenverloren auf dem Schoß ihrer Mutter. Bis sie
plötzlich fragte: „Aber warum Steinböcke?“ „Dir kann man gar nichts recht machen, was?“, stöhnte Jörg, „wer sonst
sollte den Schlitten ziehen?“ „Hirsche!“ eröffnete Dilia ohne Zögern, „sie sind viel hübschere Tiere.“ „Hirsche wären
nicht kräftig genug“, meinte Jörg, doch bevor die Geschwister diesen Streit entfachen konnten, meldete sich die
Mutter zu Wort: „Auch wenn Thor mehr ein Freund der Böcke ist, er würde sicher einen Hirsch als Weggefährten nicht
verschmähen. Deshalb …“ Sie ließ ihre Worte geheimnisvoll verklingen und deutete stattdessen auf die ungeöffnete
Box, die auf einen Tisch stand. Dilia verstand sofort, sprang von ihrem Schoß auf und eilte zu dem Tisch. Rasch war
die Box geöffnet und glücklich hielt das kleine Katzenmädchen einen gläsernen Hirsch in den Händen, den sie
sogleich an den Baum hing.
„Dilia, bedrückt dich immer noch etwas?“, fragte die Mutter, während sie den Baum weiterschmückten. Dilia hielt mit
einem weiteren Hirsch in den Fingern inne und sagte dann: „Du sagtest, dass man das Julfest auch dazu nutzt, um
zurückzublicken. Ich … war dieses Jahr nicht sehr gut im Ringen, oder?“ „Du hast schlechte Dinge getan“,
verharmloste die Mutter nicht. „Doch auch das Ringen mit seinen eigenen Untaten ist ein würdiges. Eines, dass jeder
von uns durchmacht.“ „Auch du Mutter?“, wollte Dilia wissen. „Natürlich“, erwiderte die Mutter und sie sah ihre Tochter
ernst an. „Als deine Eltern hätten wir dich davor bewahren sollen, so gemein zu sein. Deine Fehler sind damit auch
unsere. Wenn der Schnee schmilzt und ein frischer Boden zum Vorschein kommt, werden wir alle einen neuen
Versuch unternehmen. Wobei du, Dilia, dich doch schon sehr bemühst. Elisabeth hat sich doch über die Einladung
gefreut, oder?“ „Ich glaube schon“, antwortete Dilia nicht wirklich sicher, „doch wird sie kommen?“ „Ich könnte es ihr
nicht verdenken, wenn sie es sich anders überlegt“, meinte Jörg, einen Steinbock aufhängend. Genau in dem Moment
läutete es und ehe die Mutter etwas sagen konnte, hing der Hirsch schon am Baum, während das Katzenmädchen
zur Wohnungstür eilte. „Frohes Julfest!“, wünschte Dilia, sobald sie Elisabeth und ihrem Bruder die Tür geöffnet hatte.
„Frohes Julfest!“, wurde es aus ganzer Seele erwidert und sogleich verschwand das Katzenmädchen unter einer
Umflügelung.
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In der Adventszeit 2021 wurde die Geschichte von Freyas Gunst veröffentlicht.
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