Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag  31. Juli 2024
Weglaufen versus Hinlaufen
© Inez Maus 2014–2024
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„Man sagt heute nicht mehr Weglaufen“ – diesen berechtigten Zwischenruf habe ich in der letzten Zeit des Öfteren bei meinen Veranstaltungen gehört, bevor ich mich dazu äußern konnte, warum ich die Formulierung Hinlauftendenz (anstatt Weglauftendenz) meist unpassend finde, wenn es dabei um das Thema Autismus geht. Auch einige Rückmeldungen zu meinem Blogartikel Weglauftendenz gingen in diese Richtung. Das BWPN (Bundesweites Pflegenetzwerk) erklärt Hinlauftendenz folgendermaßen: „Hinlauftendenz beschreibt [.] eine Verhaltensweise von Menschen mit einer Demenzerkrankung, sich ‚auf den Weg‘ zu machen. […] Die tatsächlichen Gründe einer Hinlauftendenz sind nicht ausreichend ermittelt. Es wird spekuliert, dass auch Menschen mit einer Demenz das Gefühl haben können, etwas (ortsgebunden) erledigen zu müssen.“ (Quelle: Zugriff am 30.07.2024) Betreuungsbedürftige Personen, die eine Situation spontan verlassen, um mit einer bestimmten Intention einen anderen Ort aufzusuchen, weisen also tatsächlich eine Hinlauftendenz auf. Die Schwierigkeit für die betreuenden Personen besteht immer darin, dass dieses Bedürfnis nicht kommuniziert wird oder besser gesagt: nicht kommuniziert werden kann. Auch autistische Kinder (sowie Jugendliche und Erwachsene) können eine Hinlauftendenz aufweisen. Hierfür gibt es zwei mögliche Ursachen: Einerseits kann ein autistisches Kind sehr fixiert auf bestimmte Dinge sein. Wenn dies zum Beispiel Wasser ist, wird das Kind beim Erblicken eines Springbrunnens auf diesen zulaufen wollen/müssen, ohne dabei den Eltern einen entsprechenden Hinweis zu geben und oft ohne auf die Gefahren zu achten, die auf dem Weg zum Springbrunnen lauern können. Diese Form des Hinlaufens ist im Vergleich zu anderen spontanen Bewegungen autistischer Kinder relativ leicht zu handhaben, wenn die Eltern die Auslöser erkannt haben. Im Beispiel des Springbrunnens kann das bedeuten, dass die Eltern den Springbrunnen rechtzeitig entdecken, weil sie ständig die Umgebung nach solchen Triggerpunkten für ihr Kind scannen. Sie nehmen es dann an die Hand und gehen gemeinsam zum Springbrunnen Andererseits gibt es Situationen, in denen sich ein Kind befindet, in denen es aber eigentlich nicht sein möchte. Eine Mutter fasste das in einem markanten Satz zusammen: „Die autistischen Kids laufen immer dahin, wo es schöner ist.“ Das gilt allerdings nicht nur für autistische Kinder, sondern für alle Kinder. Es gibt immer bestimmte Alltagszwänge wie beispielsweise die Notwendigkeit zum Einkaufen. Mit nicht-autistischen Kindern ab einem gewissen Alter sind Verhandlungen möglich, wie beispielsweise ein Besuch des Spielplatzes nach dem Einkaufen. Mit autistischen Kindern ist dies weitaus komplizierter. Nicht-autistische Kinder laufen in der Regel in solchen Situationen, in denen sie aktuell nicht sein möchten, nicht weg. Sie verhandeln, diskutieren, provozieren, quengeln – alles komplizierte soziale Verhaltensweisen, auf die autistische Kinder in der Regel nicht zugreifen können. Autistische Kinder laufen dahin, „wo es schöner“ ist. Oder laufen sie doch weg? Beim Weglaufen autistischer Menschen handelt es sich wirklich um ein Verlassen der aktuellen Situation, die an sich als angenehm oder zumindest als nicht belastend empfunden wird, aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen. Auch dies möchte ich an einigen Beispielen verdeutlichen: Ein autistisches Kind geht zweimal pro Woche mit der Mutter in die nahegelegene Bäckerei. Nie gab es dabei Probleme und die Mutter glaubt sogar, dass das Kind dabei Freude empfindet. Das kann auch daran liegen, dass das Kind jedes Mal ein paar Kekse bekommt. Eines Tages läuft das Kind unvermittelt aus der Bäckerei weg. Der Mutter gelingt es, das Kind wenige Häuser weiter wieder einzufangen und zu beruhigen. Später lässt sie auf der Suche nach der Ursache die Szene Revue passieren. Was war heute anders? Ihr fällt ein, dass eine stark parfümierte Frau den Laden betreten hatte. In der Nähe war ein Presslufthammer zu hören gewesen. Der Chef der Bäckerei hatte ein paar unfreundliche Worte an die Verkäuferin gerichtet. Ein betreuungsbedürftiger, autistischer Jugendliche geht seit einiger Zeit mit einer Gruppe Gleichgesinnter und zwei Begleitern Wandern. Bisher gab es keine Probleme und ihm schien das Wandern zu gefallen. Auch er läuft eines Tages weg und kann nur unter Mithilfe von freiwilligen Suchkräften gefunden werden. In der Wohneinrichtung stellt einer der Betreuer fest, dass der Jugendliche die Regenbekleidung nicht eingepackt hatte. Das wäre eigentlich kein Problem gewesen, da kein Regen erwartet wurde. Die beiden Betreuer wussten aber, dass der Jugendliche die Regenbekleidung immer bei sich führte. War das der Auslöser für das Weglaufen? Fiel dem Jugendlichen unterwegs erst ein, dass er die Regenbekleidung vergessen hatte? Sicherlich könnte man auch die beiden zuletzt geschilderten Ereignisse im weitesten Sinne als ein Hinlaufen auslegen – ein Hinlaufen zu einem Ort ohne Parfüm, Presslufthammer, laut redende Personen oder ein Hinlaufen mit dem Ziel Wohneinrichtung, um den vermeintlichen Fehler zu korrigieren (wenn die Interpretation der Situation durch die Betreuenden richtig war). Bei dieser weiten Auslegung der Formulierung hinlaufen würde aber das Wort weglaufen in der deutschen Sprache überflüssig werden. Wenn ich in den meisten Fällen in Bezug zu Autismus von Weglauftendenz und nicht von Hinlauftendenz rede/schreibe, geht es mir aber nicht darum, dass Wort weglaufen vor der Ausrottung zu bewahren. Es geht mir darum, die Bedrohlichkeit solcher Situation für alle Beteiligten nicht durch eine Formulierung, die eine Gegebenheit positiver formulieren soll, weniger sichtbar zu machen. Interessant ist, dass vor allem Websites, die Assistenzhunde anbieten, unter der Rubrik Hinlauftendenz in der Regel vom Weglaufen des autistischen Kindes – und wie dies durch einen geschulten Hund unterbunden werden kann – berichten. Gefährliche Situationen entstehen fast immer, wenn ein autistischer Mensch wegläuft, meist auch, wenn er zu etwas hinläuft!