Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 31. August 2025
Autismus - vor 25 Jahren und heute (Teil 1/2)
© Inez Maus 2014–2025
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Vor Kurzem wurde ich bei einem Interview gefragt, welche Dinge in Bezug auf Autismus sich in den vergangenen 25 Jahren geändert haben. Da eine einzige Interviewfrage für ein solch komplexes Thema nicht ausreicht und die ungesagten Dinge seitdem in meinem Kopf umherirren, habe ich beschlossen, sie mit meinen Leserinnen und Lesern zu teilen. Um die Jahrtausendwende wurde die Autismus-Landschaft von Fachpersonen dominiert. Deren Blick auf das Thema war stark defizitorientiert, obwohl mit der Aufnahme des Asperger-Syndroms in die ICD-10 (1990 verabschiedet, 1994 eingeführt) die Defizitorientierung eine Relativierung erfuhr, da diese Menschen ihre Stärken präsentieren konnten und auch begannen, dies zu tun. Auf Tagungen zum Thema Autismus war es üblich, Eltern autistischer Kinder als „schmückendes Beiwerk“ zu Wort kommen zu lassen. Einige Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends wurde diese Rolle zunehmend autistischen Menschen übertragen. Zur Defizitorientierung gehörte auch, dass sich die Fachwelt einig darüber war, dass autistische Kinder nicht kreativ sein können: „Die intelligenteren Kinder mit Autismus haben wenig Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Aber auch wenn sie meist richtig konstruierte Sätze schreiben können, sind sie deshalb nicht kreativ. […] die Inhalte sind lediglich exzentrisch, bizarr und repetitiv“ (Aarons & Gittens, 2007, S. 118). Zahlreiche autistische Künstler haben in den vergangenen Jahren derartige Feststellungen auch in anderen Bereichen der Kunst widerlegt. Aufgrund der eben erwähnten Defizitorientierung waren Fachpersonen, die Diagnostik durchführten, sehr vorsichtig mit der Vergabe der Diagnose Autismus. Vor ungefähr fünfzehn Jahren sagte eine Psychiaterin einmal zu mir: „Früher haben wir dreimal überlegt, bevor wir die Diagnose vergeben haben, heute kommen die Eltern mit der Diagnose zu uns, weil sie im Internet ein paar Tests gemacht haben.“ Die Zunahme der Häufigkeit von Autismus, die zu einem großen Teil den geänderten Diagnosekriterien zuzuschreiben ist, hat dazu geführt, dass Autismus häufig als „Modediagnose“ bezeichnet wird (wobei hier der Blick auf Personen gerichtet ist, die den Kriterien des ehemaligen Asperger-Syndroms entsprechen) und dass die damit einhergehenden Probleme nicht ernst genommen werden. Informationen über Autismus zu erlangen, war vor 25 Jahren relativ schwierig. Das Internet steckte in den sprichwörtlichen Kinderschuhen und wenn es wirklich eine Seite gab, die sich mit Autismus beschäftigte, war nach dem Öffnen des entsprechenden Links häufig zu lesen: „Diese Seite befindet sich im Aufbau.“ Podcasts, YouTube- Videos und Blogs waren noch nicht zum Leben erweckt. Der Buchmarkt lieferte einige Fach- und Sachbücher zum Thema. Sachbücher waren häufig aus dem Amerikanischen übersetzte Biografien von Müttern, die es geschafft hatten, ihre autistischen Kinder auf spektakuläre Art zu heilen (/s). Eins der wenigen Sachbücher, das aus diesem Muster herausfiel, war die schon einige Jahre zuvor erschienene Autobiografie von Temple Grandin. Dieses Buch mit populärwissenschaftlichem Anspruch, welches auch heute noch absolut lesenswert ist, widerlegte, dass „der autistische Geist […] unfähig [ist], sich selbst und andere zu verstehen, und folglich unfähig zu authentischer Introspektion und reflektierender Rückschau“ (Sacks, 2002, S. 350). Damit war der Weg gebahnt, um Autismus nicht nur aus der Sicht von Fachpersonen oder Eltern, sondern auch und vor allem aus der Perspektive von autistischen Menschen zu betrachten und zu verstehen. Diese Perspektive von autistischen Menschen hat dazu geführt, dass Autismus heute nicht mehr als Krankheit mit einem Heilungsanspruch betrachtet wird, sondern als neurologische Besonderheit, die ein angepasstes Umfeld und therapeutische Unterstützung zur Alltagsbewältigung benötigt. Heute existiert eine nahezu unüberschaubare Fülle an Informationsquellen, wenn man etwas zum Thema Autismus wissen möchte. Nicht alle sind seriös und manchmal fällt es auch Fachpersonen schwer, die sprichwörtliche Spreu vom Weizen zu trennen. Autistische Protagonisten finden sich in belletristischen Werken, in Filmen und in Serien. Befragt man autistische Menschen, empfinden sie diese Darstellungen oft als einseitig oder klischeehaft. Je mehr ich über dieses Thema schreibe, desto mehr fällt mir ein, was noch betrachtet werden sollte. Um den Beitrag nicht zu lang werden zu lassen, beende ich ihn an dieser Stelle und werde die Ausführungen im September fortsetzen.