Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 31. Oktober 2025
Autismus - vor 25 Jahren und heute (Teil 3/3)
© Inez Maus 2014–2025
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Vor Kurzem wurde ich bei einem Interview gefragt, welche Dinge in Bezug auf Autismus sich in den vergangenen 25 Jahren geändert haben. Da eine einzige Interviewfrage für ein solch komplexes Thema nicht ausreicht und die ungesagten Dinge seitdem in meinem Kopf umherirren, habe ich beschlossen, sie mit meinen Leserinnen und Lesern zu teilen. Hier folgt nun der Teil 3, den ersten Blogbeitrag finden Sie hier. Mein Blogartikel im September endete mit der Ankündigung, das Thema Autismus – vor 25 Jahren und heute fortzusetzen und unter anderem das Inkrafttreten der UN-BRK in den Blick zu nehmen. Gerade gestern hatte ich dazu ein interessantes Erlebnis. Auf einer Veranstaltung zum Projekt „Unseen Lives“ der Kulturregen Berlin gUG – Netzwerk für inklusives kulturelles Empowerment trafen Menschen ohne und mit (nicht sichtbarer) Behinderung aufeinander. Eine junge, nicht behinderte Frau, die in ihrer Funktion als Sprecherin eines der Hörstücke zu Gast war, berichtete von ihrer Schulzeit an einer inklusiven Schule. Als Kind habe sie nur die Kinder mit sichtbarer Behinderung wahrgenommen und die beiden Schulbegleitungen hätten sich auch nur um diese Kinder gekümmert. Aus ihrer heutigen Sicht gab es aber in ihrer Klasse noch mehrere Kinder mit unsichtbaren Einschränkungen, die keine Unterstützung erfuhren und als Störenfriede wahrgenommen wurden. Dazu gab es sofort zwei weitere Wortmeldungen, wovon die eine beschrieb, dass „autistische Kinder über Tische und Bänke gehen“ und die andere über das Aufgeben eines Sonderpädagogik-Studiums berichtete, weil angehende Lehrkräfte kaum Unterstützung erfahren. Diese Einzelaussagen scheinen mir in weiten Teilen den aktuellen Stand der Inklusion widerzuspiegeln. Vor 25 Jahren gab es die UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) noch nicht. Die UN-BRK ist ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Inklusion ist dabei das Instrument, um Teilhabe als unveräußerliches Menschenrecht zu verwirklichen. In der Praxis bedeutet Inklusion, dass Menschen mit Behinderungen sich nicht an Gegebenheiten oder Strukturen anpassen müssen, um ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten, dass sie die Freiheit haben, eigene Entscheidungen zu treffen, und dass sie angemessene Unterstützung erhalten, um ihre Ziele erreichen zu können. Im schulischen Bereich bedeutet Inklusion beispielsweise, dass Kinder mit einer Behinderung das Recht haben, eine Regelschule zu besuchen, und dass das schulische Umfeld dementsprechend gestaltet wird. Das war nicht immer so. Vor dem Inkrafttreten der UN-BRK wurde die Entscheidung über die Beschulung vom Landesschulamt auf Grundlage der Empfehlungen eines Förderausschusses getroffen. In einem Förderausschuss sollte der sonderpädagogische Förderbedarf des Kindes ermittelt werden, um dann eine passende Förderschule für dieses Kind festzulegen. Eine Integration von Kindern mit Behinderung an einer Regelschule war die Ausnahme – und wenn es sich um ein autistisches Kind handelte, war es die Ausnahme von der Ausnahme. Eltern hatten kein Mitspracherecht und somit mussten auch wir uns der Tatsache beugen, dass die Schullaufbahn unseres autistischen Kindes an einer Förderschule begann. Dazu kam noch die Bürokratie des Prozederes, die Eltern schmerzliche Erfahrungen bescherte: Bis zu Benjamins Aufnahme in die Vorklasse [der Förderschule] kannten wir keine anderen Eltern mit behinderten Kindern, die uns über solche Dinge wie Förderausschüsse hätten aufklären können. Wir vergaßen sogar, unseren Sohn in der Grundschule unseres Einzugsbereiches […] anzumelden, weil wir uns dessen nicht bewusst waren, da Benjamin doch bereits eine Schule besuchte und dort auch eingeschult werden sollte. Dies war vor ein paar Monaten und erst ein Anruf aus der Grundschule machte uns unser Versäumnis noch rechtzeitig klar. Unseren Sohn in einer Grundschule anzumelden, um ihn dann gleich wieder abzumelden, weil er diese nicht besuchen konnte, das war ein äußerst bitterer Gang für uns und ich war froh, dass Leon dies übernahm, weil ich fürchtete, dabei dann nicht mehr Herr meiner Gefühle zu sein.* Ebenfalls ein Umdenken beziehungsweise eine Weiterentwicklung hat das Konzept der Neurodiversität in den letzten Jahren erfahren. Dieses Konzept stammt zwar bereits aus den 1990er-Jahren und wird den beiden autistischen Aktivisten Judy Singer und John Sinclair unabhängig voneinander zugeschreiben, aber ins Bewusstsein einer breiteren Menge von Personen ist es erst im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahren gelangt. Neurodiversität ist ein Konzept, welches typische und atypische neurobiologische Entwicklungen als menschliche Disposition ansieht. Nach diesem Konzept sind alle Menschen als neurodivers zu betrachten, weil sich alle Gehirne in ihrem Aufbau und in ihrer Struktur ähneln, aber unterschiedlich funktionieren können. Menschen, die sich entsprechend den medizinischen und psychologischen Normen entwickeln, werden als neurotypisch bezeichnet. Menschen, deren Entwicklung von diesen Normen abweicht, sind neurodivergent. Viele Therapien waren um die Jahrtausendwende darauf ausgerichtet, dass autistische Kinder lernen, sich wie nicht- autistische Kinder zu verhalten, denn nur dann seien sie in der Lage, eine Regelschule zu besuchen. Dazu kamen verschiedene Formen von Verhaltenstherapie zum Einsatz, die inzwischen stark in die Kritik geraten sind, weil unter anderem inzwischen erkannt wurde, dass diese als Maskieren bezeichneten Verhaltensweisen negative Folgeerscheinungen wie psychische Erkrankungen nach sich ziehen können. Ebenfalls kritisch wird heute betrachtet, dass verhaltenstherapeutische Maßnahmen das intrinsische Lernen nicht fördern, sondern eher behindern. Etwas, was es vor 25 Jahren noch nicht gab, ist eine Summe aus Verhaltensauffälligkeiten, die als PDA (Pathological Demand Avoidance, Krankhafte Vermeidung von Anforderungen) bezeichnet wird. PDA ist keine eigenständige Diagnose, sondern beschreibt eine Reihe von Besonderheiten im Verhalten, wenn an das Kind Anforderungen von außen herangetragen werden, die eigentlich zu bewältigen sind. Dies tritt sowohl bei autistischen Kindern als auch bei Kindern mit anderen Entwicklungsstörungen auf. Es bleibt abzuwarten, ob PDA in irgendeiner Weise Eingang in die nächste Überarbeitung der Diagnosekriterien für Autismus finden oder eventuell sogar eine eigenständige Diagnose bilden wird. Zum Schluss möchte ich noch anmerken, dass Eltern autistischer Kinder in letzter Zeit vermehrt in den nicht wohlwollenden Blick von einigen Fachpersonen geraten. Vor 25 Jahren war es gerade gelungen, sich vom Kühlschrankmutter-Konzept endgültig zu lösen und die biologischen Ursachen von Autismus anzuerkennen. Dies wird zwar heute meist nicht bestritten, aber wenn auf Tagungen von renommierten Fachpersonen davon gesprochen wird, dass Eltern das autistische Verhalten ihrer Kinder verstärken und dass Eltern deshalb endlich wieder kritisch in den Blick genommen werden dürfen beziehungsweise müssen, dann finde ich dies recht besorgniserregend. Eltern und Fachpersonen sollten nicht nur gemeinsam an einem Strang ziehen, sondern auch am selben Ende, um das Beste für das autistische Kind zu erreichen. * Zitat aus „Mami, ich habe eine Anguckallergie“, Maus, 2013, Engelsdorfer Verlag