Rot gefärbtes Eis
© Inez Maus 2014–2024
Vor einigen Tagen habe ich Weihnachtsstollen und Plätzchen gebacken. Seitdem freut sich Benjamin, mein
autistischer Sohn darauf, diese Leckereien am ersten Advent, also heute, verzehren zu können.
Das war nicht immer so. Als kleines Kind versetzten ihn unbekannte Lebensmittel in Panik – wie beispielsweise das
rote Eis zum fünften Geburtstag seines älteren Bruders.
Benjamin hatte zu dieser Zeit sehr spezielle Essensvorlieben und weigerte sich hartnäckig, andere Speisen zu
probieren. Um Einseitigkeit, aber vor allem auch ständigen Ängsten vorzubeugen, versuchte ich, ihn zum Probieren
von Speisen zu bewegen. Manchmal gelang mir das sogar und so kostete er mit fast drei Jahren zum ersten Mal ein
Eis, da ich mir sicher war, dass es ihm schmecken würde, und da ich glaubte, die rote Farbe des Erdbeereises
würde ihm gefallen. Weil er noch nicht verbal kommunizieren konnte und noch keine Autismus-Diagnose hatte,
musste ich mich von meinen Gefühlen und Vorstellungen leiten lassen.
Bei den wenigen Dingen, die Benjamin freiwillig aß, zeigte er die Vorliebe, alle vorhandenen Stücke gleichmäßig
anzuknabbern. Wenn ein Teller gewaschener Äpfel auf den Abendbrottisch gestellt wurde, hatte er bereits aus allen
ein nahezu gleich großes Stück herausgebissen, bevor der Tisch fertig gedeckt worden war. Später fand ich eine
Erklärung für dieses Verhalten: Vor dem Essen sahen die Äpfel annähernd gleich aus. Durch das Anbeißen eines
Apfels wurde dieses Gleichaussehen zerstört, also stellte er mit dem Anbeißen aller Objekte ein neues Gleichsein
her, was ihm eine Art inneren Frieden verschaffte.
Vieles ist im Laufe der Jahre einfacher geworden. Zum einen ist Benjamin im Rahmen seiner Möglichkeiten
experimentierfreudiger geworden, zum anderen kann er uns inzwischen sehr gut seine Vorlieben, Probleme,
Empfindungen … mitteilen.
So haben wir erfahren, dass es keine Möglichkeit gibt, seine Geburtstagtorte geheim zu halten, denn beim Aufreißen
der Verpackung des Tortenbodens öffnet er seine Zimmertür, stürmt aus seinem zehn Meter entfernten Zimmer in die
Küche und ruft aus: „Hm, es riecht nach Torte!“
Nicht alle Gerüche rufen Vorfreude hervor oder werden als angenehm empfunden. Der Geruch des Mittagessens in
der Schule führte bei Benjamin permanent zu Übelkeit und daraus resultierte ein jahrelanger Kampf mit und gegen
die entsprechende Schule – ein Erlebnis, welches mir viele Eltern inzwischen in ähnlicher Weise geschildert haben.
Wahrnehmungsbesonderheiten beziehen sich beim Thema Essen nicht nur auf den Geruch. Eine Autistin berichtete
mir beispielsweise, dass sie wahrnimmt, wenn Zutaten von Lebensmitteln minimal variiert werden oder wenn ein
Produkt in verschiedenen Werken/Regionen hergestellt wurde. Manches Mal schmeckt ihr das eine, wogegen sie
das andere als ungenießbar einstuft. Ihr Freund bemerkt beim Verkosten der entsprechenden Produkte nie einen
Unterschied.
Schwierigkeiten bei der Ernährung können für jugendliche und erwachsene Autistinnen und Autisten aber bereits vor
der eigentlichen Mahlzeit beginnen: Sensorische Belastungen beim Einkaufen erschweren mitunter das Leben
ebenso wie ungenaue Angaben in Rezepten oder fehlende Detailinformationen. Wie viel Gramm sind denn „eine
Prise Salz“ oder was muss ich tun, wenn das Rezept „nach Bedarf würzen“ verlangt? Was wird von mir verlangt,
wenn ich laut Rezept „blanchieren“, „abseihen“, „anschwitzen“ … soll?
Eine eigene kleine Rezeptsammlung anzulegen, hat für Autistinnen und Autisten viele Vorteile, weil sie u. a.
Folgendes erfüllt*:
•
Sie motiviert zum Kochen, Backen oder Zubereiten, weil sie nur Speisen enthält, die gern gegessen
werden.
•
Sie enthält keine ungenauen Anweisungen und ausschließlich messbare Mengenangaben.
•
Sie erklärt alle Arbeitsschritte so detailliert wie nötig.
•
Sie verwendet in den Rezepten keine Inhaltsstoffe oder Lebensmittel, die nicht vertragen oder aus
sensorischen Gründen abgelehnt werden.
•
Sie nennt ein zu dem entsprechenden Gericht passendes Getränk.
Mein Stollenrezept, welches seit Generationen in der Familie meiner Mutter weitergegeben wurde, enthält eine Fülle
an ungenauen Angaben: Neben der klassischen „Prise Salz“ finden sich dort Angaben wie „knapp“, „gut“, „einige“
und „für 10 Pf. Hefe“. Das ist zurzeit kein Problem, denn Benjamin bäckt zwar Kuchen und Kekse, hat aber vorerst
nicht vor, Stollen zu backen. Hier begnügt er sich mit dem Verzehren.
Ich wünsche allen meinen Leserinnen und Lesern einen sorgenarmen, gemütlichen ersten Advent mit Stollen und
Keksen.
*Maus, I. (2020). Kompetenzmanual Autismus. (KOMMA) – Praxisleitfaden für den Bildungs-, Wohn- und
Arbeitsbereich. Stuttgart: Kohlhammer, S. 87.
Links zu weiteren Artikeln, die sich mit einigen Besonderheiten oder Schwierigkeiten von autistischen Menschen bei
der Ernährung beschäftigen, finden Sie hier.
Zum Weiterlesen:
Wie essen Hunde?
Der weiße Grieche …